Was mit Schulmedizin gemeint ist, wissen vermutlich die meisten. Schulmedizin ist das Gegenteil von Alternativmedizin. Was an Kliniken praktiziert und an Universitäten gelehrt wird, ist Schulmedizin. Beim Heilpraktiker bekomme ich jedoch (vermeintlich) sanfte Alternativmedizin, oft zu Unrecht mit Naturheilkunde gleichgesetzt. Ich würde statt Schulmedizin lieber wissenschaftsbasierte Medizin sagen, wohl wissend, dass nicht alle Methoden so wissenschaftlich fundiert sind, wie wir Mediziner das gerne hätten. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen könnte man auch von wissenschaftlich orientierter Medizin sprechen. Am allerliebsten wäre es mir jedoch, wenn man den Präfix weglassen würde und einfach nur Medizin sagt. Denn Alternativmedizin ist meiner Ansicht nach sowieso ein sinnfreier Begriff, und es braucht damit gar kein Wort für das “Gegenteil”.
Dieser Post ist nötig, um Begrifflichkeiten zu erörtern, die im allgemeinen Sprachgebrauch schon fest verankert sind, es eigentlich aber nicht sein sollten. Er ist nötig, da ich für die kommenden Monate auch einige Beiträge zur Pseudomedizin geplant habe, und mir wichtig ist, klarzustellen, was ich denn mit diesem Begriff überhaupt meine – und wieso ich andere Begriffe nicht verwende.
“Schulmedizin” – ein Begriff mit dunkler Vergangenheit
Der Begriff der Schulmedizin wurde erstmals vom homöopathischen Arzt Franz Fischer 1876 verwendet. Er meinte damit jedoch nicht etwa, wie heute oft verstanden, die Medizin die an Hochschulen unterrichtet wurde, sondern bezeichnete damit die Medizin als “Schule”, d.h. als starres Konstrukt, das unfähig sei sich zu ändern. Schon damals hat Fischer ihn als abwertenden Begriff anstelle von Allopathie verwendet – ein Begriff, der wiederum von Samuel Hahnemann geprägt wurde, dem Begründer der Homöopathie. Allopathie beschrieb die Medizin, die damals üblicherweise praktiziert wurde und die im Gegensatz zu seiner eigenen Lehre stand. Von Beginn an stand der Begriff also diametral dem gegenüber, was wir heute wahlweise als wissenschaftsbasierte, evidenzbasierte oder zumindest wissenschaftlich orientierte Medizin beschreiben. Das ist zwar heute unser Anspruch an die “echte” Medizin, zugegebenermaßen darf aber angezweifelt werden, inwiefern diese Ansprüche zumindest zu Zeiten Fischers schon erfüllt waren. Die Medizin als wirkliche Wissenschaft, mit ihren Wurzeln in der Physik, Chemie und Biologie, steckte trotz Größen wie Rudolf Virchow, Louis Pasteur und Paul Ehrlich immer noch in ihren Kinderschuhen.
Ein dreiviertel Jahrhundert später, zur Zeit des Nationalsozialismus, wurden hingegen Naturheilkunde und Naturärzte stark aufgewertet, und die Schulmedizin als elitär und “verjudet” angesehen. Naturheilverfahren seien der Schulmedizin oftmals überlegen, schrieb der Reichsärzteführer Gerhard Wagner 1933 im deutschen Ärzteblatt. Das Misstrauen gegenüber der etablierten Medizin saß tief, und auch Impfungen wurden abgelehnt, mit der Begründung, sie dienten einerseits den Juden zur Bereicherung, andererseits würden mittels Impfungen die schwachen, minderwertigen Rassen durch die starken Arier geschützt.
Nicht nur in der Medizin gab es diese Entwicklung. Auch eine arische Physik wurde im Gegensatz zur Relativitätstheorie Einsteins propagiert (der bekanntlich selber Jude und erbitterter Gegner der Nazis war). Heutzutage würde zum Glück niemand mehr auf die Idee kommen, von einer arischen Physik zu reden. Das gleiche sollte auch für die Schulmedizin gelten.
Die ekelhafte NS-Vergangenheit des Begriffs reicht eigentlich schon aus, ihn abzulehnen. Dazu kommt aber noch, dass sich die – wie schon erwähnt teilweise berechtige – Kritik an der “Schule” der Medizin mittlerweile genau ins Gegenteil gedreht hat. Wohingegen die “Schul”medizin sich an neue wissenschaftliche Erkenntnisse anpasst und alte, falsche Ideen verwirft, ist die Homöopathie eine seit zwei Jahrhunderten unveränderliche Schule; ein Konstrukt, das unfähig ist hinzuzulernen. Beispielsweise lehnt die klassische Homöopathie Mikroorganismen als Ursache von Erkrankungen ab – was vor 200 Jahren vielleicht noch abwegig erschien, mittlerweile aber so etabliert ist, wie dass die Erde eine Kugel ist. Auch wenn beides von manchen Ignoranten auch heute noch bestritten wird.
Ich werde daher auf den Begriff der Schulmedizin – außer in diesem erläuternden Post – gänzlich verzichten. Stattdessen verwende ich den Begriff der wissenschaftsbasierten oder wissenschaftlich orientierten Medizin, der den zugrunde liegenden Sachverhalten viel treffender beschreibt. Das aber auch nur zur eindeutigen Abgrenzung – eigentlich reicht schlicht der Begriff “Medizin”.
Und was ist mit der Alternativmedizin?
Der Begriff der Alternativmedizin (als Nachfolger der Allopathie) existiert eigentlich nur, um sie von der Schulmedizin abzugrenzen – da ich letzteren Begriff ablehne, gilt das auch für sein Pendant. Aber Alternativmedizin suggeriert eben auch, sie sei eine Alternative zur wissenschaftsbasierten Medizin. Man versteht unter diesem Begriff (so die Definition, die ich in diesem Blog verwenden werde) all die Verfahren, deren Nutzen entweder noch nicht bewiesen wurden, oder von denen bewiesen wurde, dass sie nichts nutzen (wie Tim Minchin so eloquent gesagt hat). Daher gibt der Begriff einen völlig falschen Eindruck: Eine unbewiesene und oft widerlegte Methode ist eben ganz explizit keine Alternative zu einer wissenschaftlichen Behandlung. Trotzdem verwendet die Alternativmedizin oft wissenschaftliche Terminologie, ohne wissenschaftlichen Grundprinzipien zu folgen. Damit ist sie eine klassische Pseudowissenschaft, und wird von mir daher auch als Pseudomedizin bezeichnet. Andere Versuche, den irreführenden Begriff “Alternativmedizin” zu ersetzen, beispielsweise von Edzard Ernst in seinem Buch “SCAM – so-called alternative medicine” (im Deutschen als “SchmU – scheinmedizinischer Unfug” übersetzt), sind zwar insofern gelungen, dass sie den Sachverhalt besser beschreiben, aber gerade durch die Abkürzung SCAM (engl. Betrug, Schwindel) direkt auch eine Wertung enthalten. Die könnte man im Begriff Pseudomedizin zwar auch sehen, jedoch ist Alternativmedizin schlicht und ergreifend pseudowissenschaftlich und der Begriff damit durchaus zutreffend.
Gleiches gilt übrigens für den Begriff der Komplementärmedizin, die ich genauso als Pseudomedizin bezeichne. Obwohl ich seine Abkürzung nicht übermäßig sinnvoll finde, kann ich Edzard Ernsts Bücher nur wärmstens empfehlen – am meisten Trick or Treatment (im Deutschen “Gesund ohne Pillen”), eines seiner ersten Bücher.
Wieso über Pseudomedizin schreiben?
Nachdem die Begrifflichkeiten geklärt sind, möchte ich noch ein paar Worte darüber verlieren, wieso ich über das Thema überhaupt schreibe. Wohingegen man sich im Rahmen des Medizinstudium (je nach Uni) nicht systematisch (und/oder kritisch) mit dem Thema auseinandersetzt, ist es in der “realen” Welt allgegenwärtig. Und man sollte seine Patienten darüber aufklären können, was die Wissenschaft über den Nutzen und die Risiken der von ihm verwendeten pseudowissenschaftlichen Behandlungen weiß. Da sehe ich eine Lücke im Medizinstudium.
Darüber hinaus kann man viel über wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn lernen, wenn man sich anschaut, wieso Pseudomedizin denn eine solche ist. Wo sind die Unterschiede zu echter Medizin? Welche Kriterien müssen denn erfüllt sein, dass wir sagen können, eine Behandlung “wirkt”? Und nicht zuletzt lernt man etwas darüber, wie der Mensch Informationen verarbeitet und Schlüsse zieht. Ich habe bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass uns der Post hoc ergo propter hoc-Fehlschluss sehr einfach auf die falsche Bahn leiten kann, wenn es darum geht, den Nutzen einer medizinischen Maßnahme zu bewerten – das ist sogar so häufig, dass ich diesen logischen Fehlschluss als Titel meines Blogs gewählt habe. Generell finden sich reihenweise Erfahrungsberichte von Menschen, die auf Methoden der Pseudomedizin schwören. Aber wie kann es denn sein, dass so viele Menschen falsch liegen? Was sind die zugrundeliegenden psychologischen Mechanismen? Mit dem Thema reden wir also automatisch darüber, wie wir denn überhaupt wissen können, was wahr ist, und was Fehlschlüsse sind, die wir nicht machen dürfen. Diese Methode nennt sich “kritisches Denken” und ist synonym zu wissenschaftlichem Denken. Denn Wissenschaft ist nichts anderes als die einzige Methode, welche die Menschheit je entworfen hat, um zuverlässig herauszufinden was wahr ist, und was nicht. Und eine Vertrautheit mit dieser Methode ist für jeden – nicht nur in der Medizin – im Zeitalter von Fake News und Verschwörungsmythen absolut essentiell. Bis sie auch endlich an Schulen ausreichend gelehrt wird, möchte ich sie auch hier in diesem Blog thematisieren.
Da ich hier sowieso schon viel zu viel über reine Semantik rede, erwähne ich auch gleich noch, dass der Begriff der Verschwörungsmythen bewusst gewählt wird. Denn genau das sind sie, reine Mythen. Eine Theorie hingegen ist ein wissenschaftlicher Fachbegriff, der in der Allgemeinsprache zwar synonym zu “Vermutung” gebraucht wird, in der Wissenschaft jedoch ein sehr gut belegtes Gedankenkonstrukt bezeichnet. Genauer gesagt kann ein wissenschaftliches Gedankenkonstrukt keinen höheren Rang erreichen als den einer Theorie. “Wahrer” als eine Theorie geht es in der Wissenschaft nicht. Die Gravitation, die Evolution, die Keimtheorie, das heliozentrische Weltbild, all das sind Theorien – in der Allgemeinsprache würden wir dazu Fakten sagen. Vor diesem Hintergrund ist klar, wieso Verschwörungstheorien kein passender Begriff ist.
Pseudomedizin ist mitnichten harmlos
Zu guter Letzt muss noch erwähnt werden, dass in unserer Gesellschaft die Ansicht weit verbreitet ist, dass Pseudomedizin vielleicht zwar nichts nutzt, aber zumindest auch nicht schaden kann. Das ist eine gefährliche Fehleinschätzung. Im besten Fall ist der Schaden durch Pseudomedizin nur ein zeitlicher oder finanzieller. Aber im schlimmsten Fall leidet die Gesundheit, mitunter bis hin zum Tod. Dazu gibt es reihenweise Beispiele, die sich z.B. hier, hier oder hier finden lassen. Es ist darüber hinaus meine persönliche Überzeugung, dass ein Glaube an Blödsinn auch immer auf die ein oder andere Weise negative Konsequenzen nach sich zieht. Je mehr wir in der Realität leben, desto besser sind die Entscheidungen die wir treffen. Aufklärung über Pseudomedizin ist wichtig, um über diese Risiken zu informieren.
Conclusio
Zusammenfassend kann man festhalten, dass es nur eine Medizin gibt. Nämlich die, die sich mit wissenschaftlichen Kriterien belegen und beweisen lässt. Alles andere ist entweder schlicht unwirksam oder zumindest ununtersucht. Beansprucht diese Nichtmedizin dann aber fälschlicherweise von sich, diese wissenschaftlichen Kriterien doch zu erfüllen, dann sollte man sie beim Namen, nämlich Pseudomedizin nennen. Andere Begriffe (Alternativmedizin, Komplementärmedizin) verschleiern nur den wahren Kern und implizieren, dass es mehr als eine Medizin gäbe.
Quellen:
- Pia Lamberty, Katharina Nocun – Fake Facts, ISBN-13: 9783869950952
- https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/schulmedizin-und-arische-physik/
- https://krautreporter.de/3379-nieder-mit-der-schulmedizin
- https://www.derstandard.de/story/2000109455158/wie-viel-nazi-ideologie-steckt-im-begriff-schulmedizin