Natürlich ist nicht gleich gut

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Als logische Fehlschlüsse bezeichnet man fehlerhafte Schlussfolgerungen. Davon machen wir Menschen im Alltag eine ganze Menge. Meistens merken wir das gar nicht, denn für den Alltag reicht uns eine vereinfachte, heuristische (d.h. über den Daumen gepeilte) Sicht auf unsere Umwelt. Wenn wir aber wichtige Entscheidungen treffen, beispielsweise in der Politik oder über die eigene Gesundheit, dann sollten wir darauf achten, dass unsere Schlussfolgerungen logisch korrekt und möglichst fehlerfrei sind. Der vermutlich häufigste Fehlschluss, der mir im Alltag (bei mir und bei anderen) begegnet, ist der sogenannte Appell an die Natürlichkeit (“appeal to nature fallacy”). Er besagt, dass etwas Natürliches immer auch gut ist. Diese Annahme ist genauso häufig wie sie falsch ist. Eigentlich ließe sich der heutige Post in einem Satz zusammenfassen: Nur weil etwas “natürlich” ist, ist es damit nicht automatisch auch gut! Wer kurz darüber nachdenkt, dem fallen schnell Beispiele ein, in denen etwas “Natürliches” schlecht ist, oder etwas “Unnatürliches” sehr wohl Vorteile bringt. Das Gefährliche an logischen Fehlschlüssen ist aber, dass man sie im Alltag eben nicht anzweifelt, sondern unhinterfragt akzeptiert.

Was ist schon natürlich?

Das Problem beginnt schon bei der Definition von “Natürlichkeit”. Meistens meinen wir damit Dinge, die nicht der Mensch hergestellt hat. Eine Pflanze ist natürlich, ein Computer ist es nicht. Aber wie steht es um eine Pflanze, die der Mensch durch Züchtung seit vielen Jahrhunderten verändert hat, so dass beim Anblick ihrer “Urform” niemand mehr die Verwandtschaft zwischen den beiden erkennen würde? Was ist mit einem Vogelnest, oder einem Biberdamm? Beides wurde durch ein Tier erschaffen, genauso wie der Computer auch. Wieso ist eine Aspirin “chemisch”, Acetylsalicylsäure aus Weidenrinde aber noch “natürlich”? Es ist das gleiche Molekül enthalten! Ist der Mensch nicht auch ein Teil der Natur, und daher all seine Schöpfungen ebenfalls? Selbstverständlich hat der Begriff durchaus seine Berechtigung; meistens gibt es gar keine Streitigkeiten, was man als natürlich bezeichnet und was nicht. Dass es zwischen “natürlich” und “unnatürlich” aber durchaus einen Graubereich gibt, und der Unterschied nicht so klar ist, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat, sollte klar machen, dass man mit diesem etwas schwammigen Begriff nicht zu viel verbinden sollte. Schon gar nicht sollte man an den Begriff irgendeine Form der Wertung knüpfen. Viele natürliche Dinge sind ausgesprochen schlecht für uns. Grizzlybären, Infektionskrankheiten oder Asteroideneinschläge zum Beispiel. Und viele unnatürliche Sachen tun uns ausgesprochen gut. Brillen beispielsweise, oder die Antibiotika, die uns gegen die oben erwähnten Infektionen helfen.

Mir ist durchaus bewusst, dass die strenge Definition eines Antibiotikums bedeutet, dass es von einem Mikroorganismus produziert werden muss. Ich benutze allerdings auch das Wort Toxin für Gifte nicht-natürlichen Ursprungs, wobei sie nach strenger Definition eigentlich aus der belebten Natur kommen müssten. Also gleicht sich das irgendwie aus. Ohnehin benutzt eigentlich niemand diese Definitionen. Und ja, man könnte jetzt die berechtigte Frage stellen, wozu es diese Definitionen dann überhaupt noch gibt.

Natürliche Pseudomedizin und böse Chemie

Am häufigsten begegnet einem der Appell an die Natürlichkeit in der Medizin. Wie oft habe ich von Ärzten den Satz gehört, “Da warten wir lieber noch ein wenig ab, bevor wir zur Chemie greifen”. Das ist nämlich das, was der Natur gegenübergestellt wird. Die böse Chemie. Ein natürliches, pflanzliches Mittel tut gut. Chemikalien sind schlecht und schaden unserer Gesundheit. So scheint die Auffassung zu sein. Doch auch die Natur besteht aus chemischen Molekülen. Darüber habe ich eine ganze Artikelserie geschrieben. ALLES ist Chemie. Und damit ist auch klar, dass etwas, nur weil es eine “Chemikalie” ist (nochmal: ALLES besteht aus Chemikalien), nicht automatisch gut oder schlecht ist. Die Begriffe “natürlich” und “chemisch” machen uns die Sicht auf die Welt zwar irgendwie einfach, sind aber überhaupt nicht zielführend. Sie verbessern unser Verständnis der Welt nicht, sondern werfen nur Nebelkerzen. Denn ob uns beispielsweise ein Medikament oder eine Heilpflanze besser gegen ein Gebrechen hilft, hat nichts damit zu tun, dass das eine “Chemie” und das andere etwas Natürliches ist. Diese Kategorien sind vollkommen irrelevant. Wichtig ist, wie sie auf zellulärer Ebene wirken, und wie sie in wissenschaftlichen Studien abschneiden.

Aus dem falschen Glauben heraus, Natur sei immer gut, nehmen viele Millionen Menschen täglich Vitamine ein (die ohne klare Indikation nutzlos sind. Ja, auch Vitamin D nicht). Wer “etwas Pflanzliches” einnimmt, ist meistens davon überzeugt, dass es keine Nebenwirkungen haben könne (eine Fehleinschätzung, die von Pseudomedizinern auch gerne beworben wird). Aber im schlimmsten Fall kann auch die Einnahme pflanzlicher Präparate schwere Nebenwirkungen haben, und beispielsweise zu einer Transplantatabstoßung führen. Im Einzelfall kann der Appell an die Natürlichkeit also drastische Folgen nach sich ziehen. Rationales Denken sollte ohne diese Begrifflichkeiten stattfinden.

Conclusio

Das beste Mittel, selber nicht Opfer logischer Fehlschlüsse zu werden, ist es, sie zu kennen. Niemand kann sich ganz vor ihnen schützen, dazu sind sie zu sehr in unserer heuristischen Denkweise verankert (was Daniel Kahneman System 1 nennt). Aber bei wichtigen Entscheidungen lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten und zu überprüfen, ob man nicht an der ein oder anderen Stelle einen Logikfehler gemacht hat. Und für den Appell an die Natürlichkeit gilt, dass man am besten ignoriert, ob etwas als “natürlich” gilt oder nicht, sondern Nutzen und Risiko ganz unabhängig von diesem Label bewertet.

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