Gluten

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Gluten ist ein Sammelbegriff für bestimmte Proteine in einigen Getreidesorten, die dort als Speicherproteine fungieren. Wer sich bewusst ernährt und sich dabei im Internet informiert, der findet früher oder später viele Seiten, die über den Nutzen einer glutenfreien Ernährung berichten. Hinter solchen Empfehlungen steht aber selten wirklich gute Wissenschaft. Aber wieso eigentlich gerade Gluten? Proteine enthalten schließlich die meisten Lebensmittel, und sind essentieller Bestandteil unserer Nahrung. Was macht Gluten so besonders?

Die Zöliakie – Eine Mischung aus Autoimmunerkrankung und Allergie

Der Grund, wieso man überhaupt Gluten als relevanten Bestandteil mancher Getreide identifiziert hat – in Abgrenzung zu den tausenden anderen Proteinen, die in diesen Getreiden enthalten sind, und die niemanden kümmern – ist eine Erkrankung, die durch den Konsum von Gluten ausgelöst wird, nämlich die Zöliakie. Dabei kommt es zu einer Immunantwort des Dünndarms auf Gluten, so dass der Dünndarm geschädigt wird und letztlich viele Nahrungsbestandteile nicht mehr in den Körper aufgenommen (“resorbiert”) werden können. Dadurch entstehen dann entsprechende Mangelzustände, wobei die Symptomatik sehr variabel ist. Es kann von (initial) asymptomatischen Fällen bis hin zu lebensbedrohlichen Mangelernährungen alles dabei sein. Bei den symptomatischen Fällen können die Symptome ganz unterschiedlich sein – je nachdem, welcher Nahrungsbestandteil weniger und welcher noch besser resorbiert wird. Die Zöliakie ist daher ein klassisches Chamäleon, also eine Diagnose, die für ganz viele unterschiedliche (und unspezifische) Symptome verantwortlich sein kann.

Warum aber reagiert das Immunsystem mancher Menschen auf Gluten, und mancher Menschen nicht? Ohne die Details des Immunsystems genauer erklären zu wollen, was den Rahmen eines einfachen Blogeintrags deutlich sprengen würde, kann man trotzdem die Grundzüge erläutern. Bei der Zöliakie reagieren in der Schleimhaut des Darms Teile des Glutens mit einem körpereigenen Enzym, der Gewebe-Transglutaminase. Dadurch entstehen neue Proteinstrukturen, die das Immunsystem erkennt und daraufhin eine Entzündungsreaktion im Darm auslöst. Diese Entzündung schädigt dann den Darm über längere Zeit so stark, dass er irgendwann seine Funktion nicht mehr erfüllen kann.

Manch einer fragt sich, wie kommt denn eigentlich ein ganzes Protein in die Darmschleimhaut? Sollten Proteine nicht abgebaut und in ihre Aminosäuren zerlegt werden, bevor sie in die Schleimhaut und damit den Körper resorbiert werden? Tatsächlich werden auch ganze Proteine ganz bewusst von einigen spezialisierten Zellen des Darms in die Darmschleimhaut transportiert. Das passiert jedoch nur in sehr geringen Mengen und hat hauptsächlich immunologische Gründe: Im Darm finden sich jede Menge Bakterien, die das Immunsystem in Schach halten muss, und dazu muss es deren Proteine kennen. Dieser Mechanismus ist vermutlich dafür verantwortlich, dass ganze Gluten-Proteine mit körpereigenen Proteinen reagieren können, um so eine Zöliakie auszulösen – in den dafür prädisponierten Menschen (s.u.).

Das Immunsystem erkennt aber nicht einfach jede beliebige Proteinstruktur. Proteine werden dem Immunsystem immer durch spezielle andere Proteine präsentiert, nämlich sogenannte MHC-Moleküle, die sich auf der Oberfläche von Zellen finden. Hier findet sich eine Antwort, wieso manche Menschen eine Zöliakie entwickeln und andere nicht: Nur wer bestimmte MHC-Moleküle besitzt, kann dem Immunsystem auch die “Zöliakie-Proteine” präsentieren, die durch die Reaktion von Gluten mit der Gewebe-Transaminase entstehen. Auf die meisten MHC-Moleküle passt das “Zöliakie-Protein” nämlich gar nicht, und kann daher auch nicht präsentiert werden. MHC-Moleküle sind wie schon erwähnt Proteine, und werden daher durch Gene kodiert. Wer also die MHC-Moleküle trägt, die zu einer Zöliakie führen können, ist erblich bedingt.

Das ist aber noch nicht die gesamte Erklärung. Denn auch wenn fast jeder Patient mit Zöliakie eines von zwei MHC-Molekülen trägt (die HLA-DQ2 und HLA-DQ8 heißen, für alle, die es genau wissen wollen), leiden die meisten Menschen mit diesen beiden MHCs nicht an einer Zöliakie. Denn etwa 25% aller Menschen tragen eines dieser beiden MHC-Moleküle, aber nur etwa 1% aller Menschen leidet an Zöliakie. Ein Teil der Erklärung fehlt also.

Das Antwort des Rätsels ist das Immunsystem selbst. Wir haben schon besprochen, dass Proteine dem Immunsystem präsentiert werden müssen, damit es sie erkennen kann, und dass es hier eine Variabilität zwischen Menschen gibt. Genauso hat aber auch das Immunsystem eine Variabilität in dem, was es alles an präsentierten Proteinen als fremd (und damit gefährlich) erkennt. Grob funktioniert das so: Ein präsentiertes Protein, das dann auch als Antigen bezeichnet wird, wird durch ein Protein des Immunsystems erkannt, den wir als Immun-Rezeptor bezeichnen wollen (kein etablierter wissenschaftlicher Begriff, aber für unsere Zwecke erst mal gut genug. Die korrekten Begriffe wären der T- und der B-Zell-Rezeptor, aber das ignorieren wir erst einmal). Jetzt kann aber der Körper nicht für jedes fremde Protein (man denke an ein Protein eines Bakteriums oder eines Virus) einen eigenen Immun-Rezeptor im Genom kodieren. Schließlich haben wir nicht beliebig viele Gene zur Verfügung (sondern grob etwa 20.000), es gibt aber viel mehr Proteine von Krankheitserregern, die wir alle erkennen müssen, wenn wir überleben wollen. In der Evolution hat sich daher ein anderer Mechanismus entwickelt: Bestimmte Zellen des Immunsystems bauen sich nach dem Zufallsprinzip aus einigen hunderten Genstückchen millionenfach einzigartige Immunrezeptoren zusammen. Dadurch können so viele unterschiedliche Proteine erkannt werden, dass bei jedem Krankheitserreger einige dabei sind, und so auch jeder Krankheitserreger (theoretisch) abgewehrt werden kann. Aber natürlich ist es jetzt bei einem individuellen Menschen immer Zufall, ob ein ganz bestimmtes Fremdprotein von einem der Immunrezeptoren erkannt werden kann oder nicht. Und im Falle des Zöliakie-Proteins haben einige wenige Menschen eben den “passenden” Immunrezeptor und erkranken an Zöliakie (zumindest, wenn das Zöliakie-Protein auch durch die passenden MHC-Moleküle präsentiert werden kann), und die meisten haben so einen Immunrezeptor zum Glück nicht.

Auch hier fragt sich der oder andere aufmerksame Leser, wie zufällig zusammengebaute Immunrezeptoren denn dann ein bakterielles Protein von einem körpereigenen Protein unterscheiden können? Die Antwort ist, dass all die Immunrezeptoren, die körpereigene Proteine erkennen, vom Körper aussortiert und vernichtet werden. Dazu gibt es auch ein eigenes Organ, von dem vermutlich die wenigsten von euch bis jetzt gewusst haben, was es macht, nämlich den Thymus (der hinter dem oberen Teil des Brustbeins sitzt). Der genaue Mechanismus, wie der Thymus diese Aufgabe meistert, ist kompliziert und ich werde ihn hier nicht erklären. Wer sich mehr für die wundervolle Welt der Immunologie interessiert, dem habe ich hier bereits das Buch Immun empfohlen.

So, jetzt haben wir hoffentlich verstanden, wieso der Konsum von Gluten bei manchen Menschen eine Zöliakie auslöst. Letztlich ist die Zöliakie eine Art Autoimmunerkrankung, aber auch ein wenig Allergie, da das Immunsystem auf einen eigentlich harmlosen Stoff reagiert. Sie ist eine der wenigen Autoimmunerkrankungen, bei der man ziemlich genau verstanden hat, wie sie entsteht.

Gluten-Unverträglichkeit ohne Zöliakie?

Aus der langen Beschreibung über die Ätiologie der Zöliakie wird klar, dass Gluten nicht prinzipiell schädlich ist, ebensowenig wie Pollen für Menschen ohne Heuschnupfen oder Penicillin für Menschen ohne Penicillin-Allergie schädlich ist. Trotzdem gibt es einige Menschen, die freiwillig auf Gluten verzichten, ohne dass sie eine Zöliakie hätten (die man mittels eines Bluttests und einer Dünndarmspiegelung mit Biopsie recht gut diagnostizieren kann). Als Grund werden verschiedene unspezifische Symptome angegeben, wie Durchfall, Blähungen, Schwäche oder Müdigkeit, die nach dem Konsum von Gluten auftreten. Wenn dieses Gluten jedoch keine Immunreaktion, d.h. eine Zöliakie auslöst, dann ist es zunächst erstmal unwahrscheinlich, dass wirklich Gluten die Ursache sein soll. Schließlich ist es letztlich ein Protein wie jedes andere auch! Die A priori-Wahrscheinlichkeit für Gluten als Auslöser der beschriebenen Symptome ist also als recht niedrig einzustufen. Aber noch besser als A priori-Wahrscheinlichkeiten zu schätzen, ist es, den Sachverhalt empirisch, d.h. in Studien zu untersuchen!

Eigentlich könnte die Frage, ob Gluten auch unabhängig von einer Zöliakie gastrointestinale Beschwerden verursachen kann, recht einfach in Studien untersucht werden. Man nimmt Menschen, die selbst angeben, auf Gluten zu reagieren, schließt eine Zöliakie als Ursache aus, und gibt ihnen dann verblindet für eine Zeit lang entweder Gluten-Tabletten oder Placebos zusätzlich zum (sonst glutenfreien) Essen. Wenn sie deutlich besser als der Zufall erraten können, ob sie Gluten oder Placebo erhalten haben, dann ist das starke Evidenz dafür, dass diese Krankheit eine biologische (im Gegensatz zu einer psychosomatischen) Ursache hat.

Es wurden zwar einige solcher Studien durchgeführt, leider haben alle an der einen oder anderen Stelle methodische Mängel. Tendenziell lässt sich sagen, dass sich eher kein Zusammenhang finden lässt, aber das ist noch nicht als abschließendes Ergebnis zu verstehen. Hier braucht es sicherlich noch einige große und gut designte Studien, um die Frage, ob eine Nicht-Zöliakie-Glutenunverträglichkeit wirklich existiert, abschließend zu klären. Eine niedrige A priori-Wahrscheinlichkeit, gekoppelt mit tendenziell negativen (und auf jeden Fall durchmischten) ersten Studien ist aber kein gutes Zeichen. Genau das gleiche Muster findet sich z.B. bei vielen pseudomedizinischen Verfahren. Bis wir die Antwort gefunden haben, sollte man sich aber gut überlegen, ob nicht andere Ursachen – wie beispielsweise die Überbewertung ganz normaler (gastrointestinaler) “Alltagssymptome” – die eigenen Symptome besser erklären können. Denn eine streng glutenfreie Diät ist erstens wirklich schwierig (fragt mal einen Zöliakie-Patienten), da in ganz vielen Lebensmittel Gluten enthalten ist (selbst wenn es nicht als Inhaltsstoff angegeben ist), zweitens teuer und drittens durch eine deutliche Einschränkung in der Auswahl an Lebensmitteln unter Umständen sogar gefährlich.

Conclusio

Einen letzten Aspekt möchte ich noch erwähnen. Wer einschlägige Datenbanken wie Pubmed nach Studien zum Thema Nicht-Zöliakie-Glutenunverträglichkeit durchsucht, der wird neben den wenigen Studien, die klären wollen, ob es das Phänomen überhaupt gibt, auch zahlreiche Studien finden, die dieses erklären oder therapieren wollen. Das ist ebenfalls ein Punkt, den man aus der Pseudomedizin kennt: Es werden ganz viele Paper darüber geschrieben, wie Homöopathie, Akupunktur und Co. wirken sollen, wobei noch nicht einmal etabliert ist, ob es sich um ein reales Phänomen handelt, das überhaupt einer Erklärung bedarf. Anders formuliert: Es wird viel über den Schnitt und die Farben des Kaisers neuer Kleider geschrieben, obwohl noch nicht einmal feststeht, ob er denn nicht doch einfach nur nackt ist. Das muss aber als erstes geklärt werden, bevor man weiter forscht.

Sonst lässt sich zusammenfassend sagen, dass Gluten völlig harmlos ist, wenn man nicht zu den wenigen Personen gehört, die an einer Zöliakie erkrankt sind. Wer diesen Verdacht hat, der muss das dringend abklären lassen, denn die Zöliakie kann unbehandelt tödlich verlaufen. Die einzige Therapie ist die konsequente Elimination selbst kleinster Mengen Gluten aus der Ernährung, was sehr aufwändig ist, da in sehr vielen Lebensmitteln Gluten enthalten ist. Ob Gluten auch Symptome verursachen kann, ohne dass eine Zöliakie vorliegt, ist aktuell unklar, aber aus den genannten Gründen meiner Meinung nach unwahrscheinlich. Für eine definitive Aussage müssen wir aber noch auf bessere Forschung warten.

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