Ich hoffe, ab jetzt wieder regelmäßiger posten zu können. Die letzten Wochen waren etwas stressig. Aber es stehen so viele Themen auf meiner to do-Liste, dass ich hoffe, ab jetzt wieder mehr Zeit zum Schreiben zu finden.
Wissenschaftlicher Fortschritt ist unglaublich rasant. Vom ersten Flug der Wright-Brüder bis zur Mondlandung sind keine 70 Jahre vergangen. Die Rechenleistung, die für die Apollo 11-Mission zur Verfügung stand, ist winzig verglichen mit der, die jeder von uns heute in der Hosentasche mit sich trägt. Meine Oma ist noch in einer Welt voller Pferde, Kutschen und Brunnen aufgewachsen; an Autos oder elektrischen Strom war in ihrer Kindheit gar nicht zu denken. Das ist gerade einmal ein Jahrhundert her. Und eine weitere Entwicklung verläuft noch schneller: Die Geschwindigkeit und die Kosten, mit der wir Erbinformation sequenzieren können.
The Human Genome Project
Im Jahr 1990 begann das Vorhaben, zum ersten Mal das gesamte menschliche Genom zu sequenzieren. Wir erinnern uns: Das sind im haploiden Genom 3,3 Milliarden Basen. Das war eine absolut gigantische Aufgabe, die mehr als ein Jahrzehnt andauerte und 2,7 Milliarden US-Dollar kostete – also gut einen Dollar pro Buchstabe des Genoms. Es waren mehrere Länder und 20 Universitäten und Forschungszentren beteiligt. 2003 wurde das Projekt für abgeschlossen erklärt, läuft aber bis heute weiter (da es eigentlich gar nicht wirklich komplett war, aber zumindest die wichtigsten Teile des Genoms sequenziert waren). Heute, keine 20 Jahre später, können private Firmen ein menschliches Genom in weniger als einem Tag und für 300-1000 US-Dollar sequenzieren. Der Preis, eine Base zu sequenzieren, beträgt damit nicht mehr einen Dollar, sondern 0,00003 Cent. Und er wird noch weiter fallen. All das wird möglich gemacht durch neue Sequenziermethoden, die man als Next Generation Sequencing bezeichnet. Und sie werden die Medizin revolutionieren.
Die nächste Generation
Um die technischen Details dieser neuen Sequenziermethode soll es heute nicht gehen. Aber die alte Methode, die im Rahmen des Human Genome Projects verwendet wurden, funktionierte so, dass man mit einem Experiment immer nur einen kleinen Teil des Genoms sequenzieren konnten, etwa in der Größenordnung von 1000 Basen (als etwa einem Millionstel des gesamten Genoms). Und dafür musste ein Wissenschaftler einige Tage im Labor arbeiten. So hat man sich langsam das gesamte Genom erarbeitet, und man kriegt einen Eindruck, wieso das Projekt so teuer und zeitaufwendig war. Mit den modernen Methoden geht man anders vor. Man zerschneidet das gesamte Genom in zufällige Fetzen (grob etwa 100 Basen lang) und sequenziert diese alle parallel. Dann setzt man sie bioinformatisch zu einer vollständigen Sequenz (bzw. genauer: zu den Sequenzen der 22 Autosomen + 1-2 Geschlechtschromosomen) zusammen. All das läuft automatisiert, und daher unglaublich schnell ab.
Und wozu das Ganze?
Spannend ist es nun, ein wenig zu spekulieren, wie diese Entwicklung die Medizin in Zukunft beeinflussen wird. Denn über kurz oder lang wird jeder Mensch Zugang zu seinem Genom haben können. Viele sehen hier die Endstrecke der personalisierten Medizin: Eine Behandlung kann nun perfekt auf den individuellen Menschen zugeschnitten werden. Das ist sicherlich etwas vereinfacht, denn das Genom definiert einen Menschen natürlich noch nicht eindeutig, sondern die Interaktion dieses Genoms mit der Umwelt vom Zeitpunkt der Zeugung an. Daher sind auch zweieiige Zwillinge nicht völlig identisch. Aber genetische Information liefert natürlich enorme Möglichkeiten, Medizin zu individualisieren. Beispielsweise tragen fast alle Menschen mit Zöliakie (Gluten-Allergie) ein bestimmtes Allel des HLA-DQ-Gens. Das ist eines der sogenanntes MHC-Moleküle, die eine enorm wichtige Rolle im Immunsystem spielen – die genaue Funktion ist an dieser Stelle aber gar nicht wichtig. Wichtig ist zunächst einmal nur, dass nur an Zöliakie erkranken kann, wer eine bestimmte Variante dieses Gens trägt. Die meisten Menschen mit dieser Variante sind zwar trotzdem gesund, aber sie ist eine notwendige Voraussetzung für die Erkrankung. Eine Zöliakie kann sich aber auf viele verschiedene Weisen äußern, und muss daher oft als Differentialdiagnose in Betracht gezogen werden. Eine Sequenzierung des HLA-DQ-Gens, um zu überprüfen, ob die Patientin denn die notwendige Variante trägt, macht aber meistens wenig Sinn. So eine Sequenzierung dauert lange (bis man als Arzt das Ergebnis vorliegen hat), und kann nur zum Ausschluss dienen, wenn die Variante nicht vorliegt; liegt sie aber vor, hat man dadurch keinen Informationsgewinn (da die meisten Träger der Variante wie schon gesagt trotzdem gesund sind). Hat man aber das Genom sowieso vorliegen, reicht ein kurzer Blick auf den Computerbildschirm, und wenn die Variante nicht vorliegt, dann ist Option Zöliakie mit sehr großer Sicherheit vom Tisch. So hat man ohne irgendeinen Test und ohne Zeitverlust schon wertvolle Informationen gewonnen. Und ähnliches gilt auch für andere Autoimmunerkrankungen. Denn einige davon sind ebenfalls stark an bestimmte HLA-Genvarianten gekoppelt. Autoimmunerkrankungen sind jetzt aber nur ein Beispiel dafür, wie genomische Information eine nützliche Rolle im klinischen Alltag haben kann.
Viel spannender aber sind die neuen Anwendungen, die erst noch entwickelt werden, wenn jeder Patient sein Genom sequenziert hat. Denn aktuell ist ein genetischer Test aufwändig und kompliziert, und die Indikation, so einen Test durchzuführen, wird nur unter bestimmten Bedingungen gestellt. Unsere jetzige Verwendung genetischer Tests wird also durch ihre begrenzte Verfügbarkeit limitiert. Wenn man jedoch die Gensequenz ohnehin kennt, was kann man mit diesen Informationen alles machen? Es gibt viele erbliche Erkrankungen, die zu einem erhöhten Auftreten von Tumoren später im Leben führen. All die könnte man direkt diagnostizieren. Das gleiche gilt beispielsweise für die lysosomalen Speichererkrankungen, ebenfalls erbliche, seltene Erkrankungen, die sich erst deutlich nach der Geburt manifestieren können und oft eine sehr schwierige Diagnose darstellen. All das wüsste man sofort nach der Genomsequenzierung. Viele Genvarianten sind nur mit einem erhöhten Risiko assoziiert, beispielsweise dem Risiko einen Herzinfarkt zu erleiden oder an Alzheimer zu erkranken. So könnte man jeden Patienten individuell beraten: Vielleicht sollten gerade Sie gar nicht erst mit dem Rauchen anfangen. Für Sie könnte es nützlich sein, schon besonders früh ihren Blutdruck zu kontrollieren. Und das sind alles nur die ersten Gedanken, die mir so kommen. Vermutlich gibt es noch reihenweise Anwendungen, an die ich noch gar nicht gedacht habe, oder die erst noch entwickelt werden, um den maximalen Nutzen aus der verfügbaren Information zu ziehen. Hier könnte sich eine regelrechte Revolution innerhalb der Medizin anbahnen.
Natürlich hat das ganze nicht nur Vorteile. Das eigene Genom ist eine der sensibelsten Informationen, die man sich so vorstellen kann, und Datenschutz daher besonders wichtig. Wer darf das Genom wann und wozu verwenden? Schon jetzt veröffentlichen viele Menschen ihr Genom, ohne zu wissen, welche Folgen das hat, da noch niemand die Folgen wirklich abschätzen kann (s. auch die Randnotiz im nächsten Absatz). Eine weitere große Einschränkung ist die Tatsache, dass es gar nicht so einfach ist, zu sagen, welche Auswirkungen eine Veränderung der genetischen Sequenz denn eigentlich hat. Bisher habe ich es so dargestellt, dass man ein Gen sequenziert, und dann genau weiß, ob es funktioniert oder defekt ist. Tatsächlich ist die Realität viel komplexer. Meistens kann man nur bei bekannten und gut untersuchten Mutationen sagen, dass sie wirklich zu einer bestimmten Erbkrankheit führen. Wenn man das ganze Genom sequenziert, findet man jedoch massig Veränderungen in den unterschiedlichsten Genen, von denen wir keine Ahnung haben, was sie überhaupt bedeuten. Denn die meisten Mutationen sind völlig harmlos. Durchschnittlich trägt jeder Mensch etwa 50 Punktmutationen (Austausch einer einzelnen Base), die weder seine Mutter noch der Vater schon trugen, die also neu (“de novo”, wie der Genetiker sagt) entstanden sind. Diese sogenannten Varianten unklarer Signifikanz zu bewerten und einzuordnen ist vermutlich die größte Herausforderung, welche der Einführung genomischer Patienteninformation in die klinische Praxis im Weg steht.
Kleine Randnotiz: Interessanterweise werden im Rahmen der Kriminologie viele Jahre nach dem Verbrechen noch Täter überführt, von denen man DNA am Tatort fand, und die man dann durch ein veröffentlichtes Genom bspw. eines entfernten Cousins entdecken und festnehmen konnte. Teilweise noch Jahrzehnte nach der Tat. Bei der Aufklärung schwerer Straftaten werden die meisten Menschen mit dieser Anwendung vermutlich keine Probleme haben, aber sie wirft ein brisantes Problem auf: Wenn meine Verwandten ihr Genom veröffentlichen, dann werden dadurch auch gleichzeitig Informationen über mich selbst preisgegeben – ganz ohne meine Zustimmung. Habe ich ein Recht darauf, meine Verwandten daran zu hindern, ihr Genom zu veröffentlichen, um meine eigenen Daten zu schützen? Das ist im Prinzip kein neues Problem: Wenn einer Patientin durch einen Gentest ein Morbus Huntington diagnostiziert wird, dann hat ihr Bruder automatisch eine 50/50-Chance, ebenfalls Huntington zu bekommen. Soll (darf?) sie es ihm mitteilen? Diese Problematik könnte aber durch das Next Generation Sequencing ganz neue Dimensionen annehmen.
Neben dem klinischen Alltag profitieren auch andere Bereiche der Medizin von unserer Fähigkeit, schnell ganze Genome zu sequenzieren. Bereits Praxis ist es, Genome von malignen Tumoren (Krebs) komplett zu sequenzieren, um herauszufinden, wie sie sich von normalen Gewebe unterscheiden. Das ist aktuell meistens im Rahmen von Forschung der Fall. In Zukunft könnte so eine Therapie genau auf den individuellen Tumor des Patienten zugeschnitten werden, da wir wissen, dass wegen Mutation A Medikament B nicht wirkt, dafür Tumoren mit Mutation X sehr gut auf Verfahren Y ansprechen. Im kleinen Maßstab wird das auch jetzt schon durchgeführt, z.B. bei Brustkrebs.
Zusätzlich würde eine genetische Beratung, beispielsweise wenn ein Paar plant, ein Kind zu zeugen, vollkommen anders ablaufen. Aktuell kann man hier nur mit Wahrscheinlichkeiten argumentieren: Das Risiko für Erbkrankheit X ist so und so hoch. Ach, ihre Mutter hatte X? Dann steigt das Risiko ein wenig, auf so und so viel Prozent. Genauere Aussagen ließen sich jedoch dann treffen, wenn die Erbinformation des potentiellen Elternpaares vorlägen – und man so vielleicht auch seltene, autosomal-rezessiv vererbte Erkrankungen verhindern könnte, an die man sonst nie gedacht hätte (bzw. von denen es so viele gibt, dass man sie nicht alle bedenken kann).
Conclusio
Über kurz oder lang wird jedem Menschen sein eigenes Genom zur Verfügung stehen. Für die Medizin entstehen dadurch enorme Möglichkeiten, Krankheiten zu diagnostizieren und Therapien zu individualisieren. Viele ethische Aspekte wurden aber noch nicht abschließend diskutiert, und viele ethische Problematiken vielleicht noch gar nicht entdeckt. Datenschutz stellt hier eine große Herausforderung dar. Trotzdem wird die Entwicklung, menschliche Genome kostengünstig sequenzieren zu können, die Medizin verändern oder gar revolutionieren. In welchem Ausmaß kann zwar noch niemand vorhersagen, aber es ist interessant, darüber zu spekulieren.