Die vier(einhalb) biologischen Substanzklassen – Teil 5: “kleine organische Moleküle”

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Die vier großen Substanzklassen sind abgehandelt. Wieso also einen fünften Teil? Bei medizinischen Fragestellungen macht es oft Sinn, eine weitere Kategorie zu unterscheiden, die chemisch gar keine ist. Nämlich die der “kleinen organischen Moleküle”.

Chemisch gesehen ist alles, was wir bis jetzt besprochen haben (Zucker, Fette, Proteine, Nukleinsäuren) nur ein (kleiner) Teil der organischen Chemie, also der Chemie der Kohlenstoffverbindungen. In der organischen Chemie finden sich aber unzählige weitere Verbindungen, die zwar Kohlenstoffverbindungen sind, aber nicht in die oberen Kategorien passen. Auch im Körper gibt es diese Substanzen reihenweise. Wir haben in Teil 1 auch schon einige davon als Abbauprodukte der Glucose besprochen, wie beispielsweise Laktat oder Acetyl-CoA. Auch ganz viele weitere metabolische Zwischenprodukte gehören dazu. All diese Stoffe fasse ich unter dem Begriff “kleine organische Moleküle” zusammen.

Aber nicht nur Stoffwechselprodukte gehören dazu. Es gibt einige Hormone – beispielsweise die Schilddrüsenhormone und alle Steroidhormone (Aldosteron, Cortisol, Testosteron, Östrogene) – die in die Gruppe kleiner organischer Moleküle fallen. Sehr viele Medikamente gehören dazu, und alle Vitamine. Und jede Menge anderer Substanzen auch: Adrenalin, Koffein, Nikotin, andere Drogen. Die Liste ist quasi endlos, da es eben so viele Möglichkeiten gibt, organische Moleküle zu bauen. Zu ein paar möchte ich im Folgenden ein wenig mehr erzählen.

Hormone

Hormone sind definiert als alle Stoffe, mit denen Zellen untereinander kommunizieren. Man unterscheidet dabei die echten Hormone von den “unechten”. Dabei werden Erstere über die Blutbahn im ganzen Körper verteilt, und erreichen alle Zellen (auch wenn nicht jede Zelle den passenden Rezeptor dafür besitzt); Letztere wirken hingegen nur mehr oder weniger lokal – beispielsweise wenn eine Zelle im Magen einer anderen Magenzelle “sagt”, dass sie doch mal Magensäure produzieren soll.

Strukturformel des Cortisols. In grün ist das Grundgerüst der Steroide eingezeichnet, das bei allen Steroidhormonen gleich ist. Cortisol ist die aktive Form des Hormons. Cortison hingegen ist am C-Atom 11 oxidiert (=O statt -OH), und ist biologisch inaktiv. Beide Formen können aber in Zellen auch ineinander überführt werden. Trotzdem werden beide Begriffe oft synonym verwendet, was nicht ganz korrekt ist.

Nicht alle Hormone fallen jedoch in die Kategorie “kleines organisches Molekül”. Es gibt auch eine ganze Reihe an Peptidhormonen, also Proteine, die hormonell wirken. Das vermutlich bekannteste ist das Insulin (das viele unserer Zellen benötigen, um Glucose aus dem Blut aufnehmen zu können). Wenn man diesen Unterschied kennt, dann hat man auch direkt verstanden, wieso manche kleinen organischen Moleküle als Tablette verabreicht werden können (wir sagen Einnahme p.o. für “per os” – also durch den Mund), wie beispielsweise Schilddrüsenhormone, Diabetiker sich ihr Insulin aber spritzen müssen. Denn als Protein wird Insulin nach oraler Aufnahme im Darm abgebaut – wie jedes andere Protein auch.

Medikamente

Das gleiche gilt natürlich auch für alle Stoffe, die als Medikament verabreicht werden. Einen Antikörper (der ja ein Protein ist) zur Behandlung einer Erkrankung kann man niemals als Tablette zu sich nehmen. Bei der Klasse der kleinen organischen Moleküle – zu der die meisten, insbesondere ältere Medikamente zählen – ist es hingegen immer auch möglich, dass sie über den Darm resorbiert werden können. Auch wenn das nicht immer das Fall ist. Das klassische Penicillin, Penicillin G, das 1928 von Alexander Fleming entdeckt wurde, ist eine solche Ausnahme: Penicillin G konnte ursprünglich nur intravenös (i.v.) verabreicht werden, da es bei der oralen Aufnahme mit der Magensäure chemisch reagiert. Durch eine kleine chemische Modifikation des Moleküls konnte dieses Problem jedoch überwunden werden, und das so entstandene Penicillin V ist auch oral “bioverfügbar”, wie man sagt, also kommt bei oraler Aufnahme im systemischen Blutkreislauf an.

Strukturformeln von Penicillin G und Penicillin V. In Rot ist der β-Laktamring eingezeichnet; der Teil des Moleküls, der für seine antibakterielle Wirkung verantwortlich ist. Es gibt viele weitere Penicilline, und auch die Klasse der Cephalosporine, die allesamt durch den β-Laktamring gekennzeichnet sind und daher β-Laktamantibiotika genannt werden.

Vielleicht kann man an der Stelle auch den Begriff der Bioverfügbarkeit genauer erklären. Zwischen der Einnahme einer Tablette, und dem Zirkulieren des Wirkstoffes im Blutkreislauf liegen nämlich einige Schritte. Schon angesprochen wurde die Magensäure, die insbesondere dazu dienen soll, Krankheitserreger, die wir mit der Nahrung aufnehmen, abzutöten (und dabei sehr gute Arbeit macht), jedoch auch Medikamente inaktivieren kann. Danach muss das Medikament natürlich auch erstmal im Darm resorbiert werden können, d.h. über die Darmschleimhaut transportiert werden. Und auch dann ist die Reise noch nicht ganz zu Ende. Denn das Blut, das unseren Darm mit Sauerstoff versorgt, fließt nicht direkt zum Herzen zurück. Stattdessen sammelt es sich in einer speziellen Vene, der Vena portae (“Pfortader”). Das Blut aus der Vena portae fließt dann zuerst in die Leber, und gelangt danach erst in die Vena cava inferior (“untere Hohlvene”), die das Blut der unteren Körperhälfte zum Herz führt. Alles, was wir mit der Nahrung aufnehmen, muss als zuerst durch die Leber, bevor es im restlichen Körper ankommt. In der Leber finden jedoch schon jede Menge Stoffwechselvorgänge mit den aufgenommenen Substanzen statt. Da die Leber dafür zuständig ist, chemische Fremdstoffe (sog. Xenobiotika) abzubauen, kann auch unser hypothetisches Medikament hier noch abgebaut werden. In diesem Fall wäre es, obwohl es schon in den Körper gelangt ist, nicht bioverfügbar – da es nur im Darm und der Leber wirken kann, und sonst kein weiteres Organ erreichen würde.

Die Leber baut Xenobiotika i.d.R. dadurch ab, dass sie chemisch so modifiziert werden, dass sie wasserlöslich (hydrophil) gemacht werden, und dann über die Nieren ausgeschieden werden können. Dieser Mechanismus wird Biotransformation genannt. Dazu gibt es eine Gruppe an Enzymen, die Cytochrom P450-Enzyme, die solche chemischen Modifikationen vornehmen. Tatsächlich werden manche Medikamente durch diesen Prozess auch erst aktiviert. Man bezeichnet die eingenommene Substanz dann als sog. Prodrug, also eine Vorstufe des eigentlich wirksamen Moleküls, das in der Leber dann erst im Rahmen der Biotransformation entsteht. Die Biotransformation ist auch der Grund, wieso Medikamente als Nebenwirkung so häufig leberschädlich (“hepatotoxisch”) sind: durch die chemische Veränderung des Moleküls wird es reaktiv, greift zelleigene Stoffe an und schädigt so die Leberzelle.

Man erkennt nun auch, wieso es so unglaublich schwierig ist, neue Medikamente zu entwickeln. Denn ein neues Medikament muss die Eigenschaft haben, alle diese Hürden zu meistern: Es darf nicht mit der Magensäure reagieren. Es muss im Darm resorbiert werden. Es darf nicht direkt von der Leber abgebaut werden (oder muss von ihr aktiviert werden). Und dann muss es noch die richtige Wirkung haben, darf nicht zu viele Nebenwirkungen haben, und nicht zu kurz (und nicht zu lange) im Körper verbleiben. So betrachtet ist eigentlich jedes gängige Medikament, dass wir p.o. einnehmen können, schon eine eierlegende Wollmilchsau.

Vitamine

Auch Vitamine fallen in die Gruppe der kleinen organischen Moleküle. Für viele Menschen sind Vitamine gleichbedeutend mit einer gesunden Ernährung, und je mehr Vitamine desto besser. Die wenigsten wissen jedoch, wofür Vitamine im Körper eigentlich benötigt werden. Was sind also Vitamine, und wozu sind sie gut?

Ein Vitamin ist definiert als organischer Stoff, den wir mit der Nahrung in Mikromengen aufnehmen müssen, da wir ihn nicht selber herstellen können. Daraus folgt, dass es zu jedem Vitamin eine Erkrankung gibt, die auftritt, wenn wir nicht genug von diesem Vitamin zu uns nehmen (eine sog. Hypovitaminose). Vitamine lassen sich in wasserlösliche und fettlösliche Vitamine einteilen. Letztere kann man sich als EDEKA merken, also die Vitamine A, D, E und K sind fettlöslich, und alle anderen sind wasserlöslich. Mit deren Funktion hat diese Einteilung jedoch nichts zu tun. Die Funktionen von Vitaminen sind enorm divers. Viele helfen bestimmten Enzymen dabei, ihre Reaktionen zu katalysieren (man nennt sie Cofaktoren dieser Enzyme – anders als in Teil 3 erklärt, bestehen Enzyme also nicht immer ausschließlich aus Protein). Manche sind jedoch auch an Redoxreaktionen beteiligt (chemische Reaktionen, bei denen Elektronen übertragen werden). Manche agieren als Transkriptionsfaktoren (d.h. induzieren oder inhibieren die Transkription eines Gens – s. Teil 4), oder sie haben ganz andere Funktionen.

Schauen wir uns beispielhaft ein Vitamin an. Vitamin A, das streng genommen in drei chemischen Formen vorkommt (Retinol, Retinal, Retinsäure), hat grob zwei Funktionen: als Teil des Sehvorgangs und als Transkriptionsfaktor. Beim Sehvorgang ist Vitamin A in der Retina (der Netzhaut) unseres Auges an ein Protein gebunden. Je nach Protein kann es dadurch Licht bestimmter Wellenlängen absorbieren. Tut es das, dann löst das Licht die chemische Reaktion des Vitamin A aus (aus 11-cis-Retinal wird all-trans-Retinol). Das wird von der Zelle erkannt, und ein Signal zum Gehirn weitergeleitet. Der Sehvorgang kann also nicht ohne Vitamin A funktionieren, aber es ist auch klar, dass man durch mehr Vitamin A nicht plötzlich besser sieht. Dass Karotten, die viel β-Carotin enthalten, das im Körper in Vitamin A umgewandelt wird, also “gut für die Augen” sind, kann man so nicht sagen. Wie bei allen Vitaminen ist es auch hier so: ab einer bestimmten Menge bringt uns mehr von diesem Vitamin keinen zusätzlichen Nutzen, sondern wird einfach wieder ausgeschieden.

Die Funktionen von Vitamin A (in Form der Retinsäure) als Transkriptionsfaktor sind etwas diffuser. Retinsäure ist bei der Spermatogenese, der Implantation des Embryos in der Gebärmutterschleimhaut, der Organentwicklung generell und auch bei der Zelldifferenzierung beteiligt. Zelldifferenzierung bezeichnet die Spezialisierung einer Stammzelle hin zu einer Zelle mit einer ganz bestimmten Form und Funktion. Ohne Retinsäure ist z.B. die Differenzierung der Kornea (im deutschen dummerweise als “Hornhaut” bezeichnet, wobei sie eben genau nicht verhornt ist – im Gegensatz zur normalen Haut), also der durchsichtigen Schleimhaut über dem Auge, auf die wir unsere Kontaktlinsen legen, gestört. Dann kann die eigentlich transparente Kornea verhornen, und so undurchsichtig werden – und damit kommt es zur Blindheit. In Europa ist das zwar kein Problem, aber insbesondere in Südostasien kommt es jedes Jahr zu hunderttausenden Blindheits- und Todesfällen durch Vitamin A-Mangel, bedingt durch die einseitige Reisernährung der Bevölkerung (andere Lebensmittel können sie sich schlicht nicht leisten).

Allgemein gilt also, dass wir von Vitaminen einen bestimmte Menge brauchen, sonst werden wir krank. Im Fall von Vitamin C wäre das z.B. die Krankheit Skorbut, die Seefahrerkrankheit. Glücklicherweise kommt so etwas in Europa nur seltenst vor. Wir bekommen ausreichende Mengen aller Vitamine durch unsere Ernährung. Der ein oder andere wird sich fragen, wieso es dann so viele Vitamine als Nahrungsergänzungsmittel zu kaufen gibt. Vermutlich nehmen einige Leser selber regelmäßig Vitamine ein. Ist das denn alles sinnlos? Und gilt das auch für Vitamin D, das sich in den letzten Jahren als der Vorreiter der Vitamine herausgebildet hat, von dem wir alle zu wenig haben und das wir dringend supplementieren sollten?

Leider muss man sagen, dass die Supplementierung mit Vitaminen ohne eine klare Indikation (z.B. bei einer bestimmten Erkrankung, einer Schwangerschaft oder einem Neugeborenen) wissenschaftlich ziemlich klar wirkungslos ist. Die Studienlage aufzudröseln werde ich mir für einen eigenen Artikel zum Thema aufheben, um dem Thema auch gerecht zu werden. An dieser Stelle möchte ich nur auf einige gute Studien zu Vitamin D aufmerksam machen:

Ein Cochrane-Review hat keine überzeugende Evidenz gefunden, dass Vitamin D die Mortalität insgesamt erniedrigt. Ein weiteres Cochrane-Review hat keinen Nutzen in der Prävention von Krebs gezeigt. Vitamin D verhindert keinen Typ 2-Diabetes. Eine große Studie aus dem New England Journal of Medicine hat keine Reduktion des Krebsrisikos oder der Häufigkeit kardiovaskulärer Erkrankungen durch Vitamin D-Supplementierung gezeigt. Vitamin D verhindert weder Depressionen noch Demenz. In dieser Metaanalyse war das Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen (in diesem Fall eines Schlaganfalls) sogar erhöht.

Wer mehr über das Thema wissen will, dem kann ich Paul Offits Buch Overkill empfehlen, oder den schon erwähnten Artikel meinerseits, den ich gedenke im Laufe des Jahres zu verfassen (und dann hier verlinke). Es lässt sich aber schon mal sagen, dass Vitamine insgesamt ziemlich undankbar sind. Wir werden krank wenn wir nicht genug davon zu uns nehmen, aber ab einer gewissen Menge (die wir alle mit der Nahrung bekommen) bringen uns mehr Vitamine rein gar nichts mehr. Supermenschen werden wir dadurch nicht. Ganz im Gegenteil: insbesondere bei den fettlöslichen Vitaminen gibt es analog zu den Hypovitaminosen auch Hypervitaminosen, d.h. Vergiftungen durch zu viel eines Vitamins. Beim Vitamin A kommt es da u.a. zu Schmerzattacken und Haarausfall. Durch eine falsche Ernährung erreicht man solche hohen Mengen an Vitaminen nicht, wohl aber durch Supplementierung mit hochdosierten Vitaminen, die man (leider) mittlerweile in jedem Supermarkt kaufen kann. Besser wäre es, auch Vitamine als Medikamente anzusehen, und sie nur in Rücksprache mit dem eigenen Arzt einzunehmen. Vitamine sind keine Wundermittel, sondern hauptsächlich ungerechtfertigter Hype.

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