Psychosomatische Erkrankungen sind keine Einbildung!

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Wer die Diagnose einer psychosomatischen Erkrankung stellt, dem schlägt oft eine vehemente Ablehnung von Seiten des Patienten entgegen: “Aber ich bin doch nicht verrückt! Wer würde sich denn so etwas ausdenken?” In dieser Aussage spiegeln sich viele Missverständnisse wieder, denen wir heute ein wenig auf den Grund gehen wollen.

Was sind psychosomatische Erkrankungen?

Der bessere Begriff für eine psychosomatische Krankheit ist eine funktionelle Störung. So kommt zum Ausdruck, dass bei diesen Krankheitsbildern nicht ein strukturelles Problem, wie beispielsweise ein Tumor oder ein Knochenbruch vorliegt, sondern der Körper stattdessen zwar strukturell intakt ist, aber seine Einzelteile nicht mehr richtig miteinander zusammenarbeiten – dass eben dessen Funktion gestört ist. Da diese Funktion immer (mehr oder weniger) vom Nervensystem gesteuert wird, liegt hier die Ursache des Problems. Da wir aber auch hier kein direktes Korrelat im Nervensystem finden, beispielsweise in Form des erwähnten Tumors oder eines Schlaganfalls, sondern das Problem diffus verteilt ist, rechnen wir es dem Bereich der Psyche zu – auch wenn alles “Psychische” immer durch anatomische Strukturen wie Nervenzellen und deren Verknüpfungen bedingt ist. Die Abgrenzung zwischen Neurologie und Psychiatrie ist letztlich ein arbiträres Konstrukt – wenn auch ein nützliches. Im Falle einer funktionellen Störung beeinflusst ein psychisch-neurologisches Problem den Körper so, dass echte körperliche Symptome entstehen. Daher der geläufigere Begriff der Psychosomatik (gr. Soma = Körper).

Machen wir das alles etwas konkreter. Was für Symptome können denn psychosomatisch bedingt sein? Die kurze Antwort ist: Fast alle. Besonders gut beschrieben sind funktionelle Störungen aus dem Bereich der Neurologie, was nach der allgemeinen Erklärung von gerade nicht allzu verwunderlich sein dürfte. Hier kann es (in schweren Fällen) dazu kommen, dass eine Extremität nicht mehr bewegt werden kann oder ein Patient erblindet. An dieser Stelle muss man erneut betonen, dass diese Patienten nicht simulieren oder sich diese Symptome nur einbilden! Simulanten gibt es natürlich auch, um sie geht es aber nicht, wenn wir über funktionelle Erkrankungen sprechen. Das ist tatsächlich auch schon einer der Hauptbotschaften, die ich mit diesem Post vermitteln möchte. Leider hält sich dieses Missverständnis selbst in Teilen der Ärzteschaft hartnäckig.

Das klingt alles ziemlich abgefahren. Wie kann es denn dazu kommen, dass eine Lähmung entstehen, ohne dass die entsprechenden Areale im Gehirn geschädigt werden? Hat die Psyche wirklich so viel Macht über den restlichen Körper?

Dass die Psyche unseren Körper beeinflusst hat jeder schon einmal erlebt. Als typisches Beispiel kann man hier das Weinen erwähnen. Durch einen emotionalen (d.h. rein psychischen) Auslöser fangen unsere Tränendrüsen an, Flüssigkeit zu produzieren – ein eindeutig körperliches Symptom. Und wohingegen Weinen einen physiologischen Prozess darstellt, kann jeder physiologische Prozess auch krankhaft verändert werden. So gerät die normale Steuerung der Körperfunktionen durch das Nervensystem durcheinander, und es entstehen verschiedenste Krankheitsbilder. Eines davon, das den meiner Ansicht nach klarsten Beleg dafür liefert, dass es das Konzept psychosomatischer Erkrankungen wirklich gibt, schauen wir uns jetzt an: den psychogenen nicht-epileptischen Krampfanfall.

Krampfanfälle ohne Epilepsie?

Um dieses Beispiel zu verstehen, muss man zunächst ein paar Begrifflichkeiten erklären, die oft missverstanden werden. Ein epileptischer Anfall (im Englischen seizure) ist dadurch definiert, dass sich Nervenzellen des gesamten Gehirns (oder Teilen davon) unkontrolliert entladen. Die typische Präsentation, die man auch aus diversen Arztserien kennt, ist der sog. tonisch-klonische Krampfanfall, bei dem ein Patient bewusstlos wird, auf den Boden stürzt, sich versteift (der tonische Teil) und dann rhythmisch mit den Armen zuckt (der klonische Teil). Nicht jeder epileptische Anfall muss jedoch mit unkontrollierten Bewegungen einhergehen (also ein Krampfanfall sein), insbesondere bei Kindern können epileptische Anfälle auch als sog. Absencen auftreten, bei denen sie kurz das Bewusstsein verlieren, aber nicht kollabieren oder zucken. Hier entladen sich auch Nervenzellen unkontrolliert, aber nicht in einem Bereich des Gehirns, der für Muskelbewegungen zuständig ist, sondern für das Bewusstsein.

Abzugrenzen vom epileptischen Anfall (der nur ein Symptom darstellt) ist eine Epilepsie, die eine Krankheit ist. Eine Epilepsie ist definiert als ein erhöhtes Risiko, epileptische Anfälle zu erleiden. Das bedeutet aber auch, dass Menschen ohne Epilepsie epileptische Anfälle erleiden können. Das kann uns allen passieren, beispielsweise durch Schlafentzug oder zu wenig Zucker im Blut, oder einfach ohne erkennbaren Grund. Etwa 5 % aller Menschen erleiden in ihrem Leben irgendwann einmal einen epileptischen Anfall – aber nicht alle von ihnen leiden an einer Epilepsie.

Einen epileptischen Anfall kann man meistens gut durch die Fremdanamnese diagnostizieren, also durch die Befragung eines Beobachters des Anfalls. Liegen trotzdem noch Zweifel an der Diagnose vor, dann kann in einer dafür spezialisierten Klinik ein Video-EEG durchgeführt werden. Dabei wird der Patient stationär aufgenommen und dauerhaft an ein EEG angeschlossen, also ein Elektroenzephalogramm, mit dem man die Hirnströme misst. Zusätzlich wird der Patient kontinuierlich videoüberwacht. Tritt während dieser Zeit ein epileptischer Anfall auf, dann kann man über den zugehörigen Hirnarealen im EEG die unkontrollierten Entladungen der Nervenzellen sehen, die einen epileptischen Anfall, wie oben erwähnt, definieren.

Was hat das mit psychosomatischen Erkrankungen zu tun? Nun, es gibt Fälle, in denen Patienten wie gerade beschrieben stürzen, (augenscheinlich) das Bewusstsein verlieren und am Boden unkontrolliert am ganzen Körper zucken, bei denen sich dann jedoch im Video-EEG eine ganz normale Hirnaktivität messen lässt, die einen epileptischen Anfall als Ursache sicher ausschließt. Das nennt man dann nach neuer Nomenklatur einen psychogenen nicht-epileptischen Krampfanfall (kurz PNES, vom englischen psychogenic non-epileptic seizure), oder auch einen dissoziativen Krampfanfall, der früher auch als Pseudokrampfanfall bezeichnet wurde (ein Begriff, den man heute nicht mehr verwendet). Dieser Anfall ist psychisch bedingt, und stellt damit eine funktionelle Erkrankung dar. Wie man auf diese Einschätzung kommt, wird dann klar, wenn man sich die Symptomatik etwas genauer anschaut. Denn man könnte ja auch sagen, vielleicht ist es ein normaler epileptischer Anfall, der sich aus irgendeinem Grund nicht im EEG zeigt?

Psychogene Anfälle sehen nämlich nicht exakt so aus wie epileptische Anfälle. Beispielsweise treten sie nur auf, wenn die Patienten auch beobachtet werden. Sie treten auch nie aus dem Schlaf heraus auf (was bei epileptischen Anfällen nichts ungewöhnliches ist). Ein PNES kann sehr lange andauern (mehrere Stunden), wohingegen ein epileptischer Anfall, der länger als 5-30 Minuten geht (je nach Definition), ein lebensbedrohlicher Notfall ist (auch wenn einfache epileptische Anfälle, die nur kurz andauern, vergleichsweise harmlos sind). Die Muskelzuckungen folgen nicht einem anatomischen Muster, wie es sich aus der Ausbreitung der unkontrollierten Erregung bei einem epileptischen Anfall im Gehirn ableiten lässt, sondern wechseln auf anatomisch nicht nachvollziehbare Art und Weise. Während dem Anfall nässen Patienten mit epileptischem Anfall oft ein, Patienten mit PNES eher selten. Nach dem Anfall ist die Zeit, bis die Patienten wieder orientiert sind, beim epileptischen Anfall lange (das Gehirn muss quasi wieder “hochfahren”) und beim PNES kurz. Beim PNES sind die Patienten noch bei Bewusstsein, auch wenn sie nicht kommunizieren können; fordert man sie beispielsweise auf, sich ein Wort zu merken, können sie es nach dem Anfall wiederholen. Beim epileptischen Anfall sind die Betroffenen hingegen bewusstlos, zumindest bei tonisch-klonischen Krampfanfällen. Und ebenfalls sehr bedeutend ist die Tatsache, dass die Anfälle bei PNES, wenn die Diagnose sehr früh gestellt wird, oft nie wieder auftauchen. All das sind deutliche Hinweise darauf, dass hier die Psyche der auslösende Faktor ist, und nicht eine Schädigung des zentralen Nervensystems. Zusätzlich kann man erwähnen, dass PNES mit anderen psychosomatischen und psychiatrischen Erkrankungen vergesellschaftet ist, d.h. öfters mit diesen zusammen auftritt, und sich bei vielen Patienten ein psychisches Trauma in der Anamnese findet (z.B. wird deutlich häufiger als in der Normalbevölkerung von sexuellem Missbrauch in der Vergangenheit berichtet). Ebenso kennen viele PNES-Patienten Menschen mit Epilepsie, d.h. sie haben schon epileptische Anfälle gesehen. An dieser Stelle weise ich noch einmal darauf hin: Auch psychogene nicht-epileptische Krampfanfälle werden nicht simuliert, sondern sind ein echtes Symptom! Die Betroffenen haben keine direkte Kontrolle darüber, wann und ob sie einen Anfall erleiden; die Anfälle können auch in den ungünstigsten Momenten auftreten.

Dieses Beispiel psychogener, nicht-epileptischer Krampfanfälle sollte also deutlich machen, dass das Konzept einer funktionellen Erkrankung mit klarer Symptomatik, für die sich jedoch keine “organische” Ursache, also ein auffälliger Laborwert oder ein Befund in einem bildgebenden Verfahren findet, durchaus seine Berechtigung hat. Es existieren mehrere Krankheiten, die zu diesen funktionellen Störungen gezählt werden, darunter z.B. das Reizdarmsyndrom, die Fibromyalgie, das chronische Erschöpfungssyndrom (chronic fatigue syndrom, CFS) und chronische (Kopf-)Schmerzen. Nicht alle sind gezwungenermaßen ausschließlich psychisch bedingt, z.B. wurden schon einige Veränderungen des Darms oder des Darm-Mikrobioms beschrieben, die bei Patienten mit Reizdarmsyndrom häufiger vorkommen als in der Normalbevölkerung. Trotzdem geht man davon aus, dass die Symptome dieser Erkrankungen zu einem relevanten Teil psychisch bedingt sind. Ich wiederhole noch einmal: Das hat nichts mit Simulation zu tun.

Psychosomatische Krankheiten als Epidemien?

Oft fällt es schon schwer, funktionelle Erkrankungen als echte Phänomene zu akzeptieren. Noch viel schwerer zu akzeptieren ist das Phänomen von übertragbaren psychosomatischen Erkrankungen, die im Deutschen immer noch als “Massenhysterie” bezeichnet werden (ein veralteter Begriff). Deutlich treffender ist der englische Begriff der mass psychogenic illness, oder am besten: mass sociogenic illness. Denn letztlich handelt es sich hier um soziale Phänomene. Ganz eng verwandt ist auch der Begriff der kulturgebundenen Syndrome.

Betrachten wir wieder ein Beispiel, nämlich das Uppgivenhetssyndrom (“Resignationssyndrom”) aus Schweden. Es handelt sich hierbei um mehrere Hundert Kinder aus Migrantenfamilien, die über einen längeren Zeitraum immer apathischer werden und schließlich in einen komaähnlichen Zustand verfallen. Sie trinken nichts mehr, essen nichts mehr, reden nicht mehr und bewegen sich nicht mehr. Sie liegen aber streng genommen nicht im Koma, denn sie sind nicht bewusstlos, wie man z.B. durch ein EEG feststellen kann. Dieser komaähnliche Zustand kann Wochen, Monate und sogar Jahre andauern, und die Kindern müssen dann dementsprechend künstlich ernährt werden. Seit Anfang der 2000er kommen imemr wieder Fälle vor. Nicht alle Kinder sind jedoch so schwer betroffen, dass sie sich gar nicht mehr bewegen; es gibt auch mildere Ausprägungen. Es ist aber ein Phänomen, das sich rein auf Schweden begrenzt; in anderen Ländern finden sich solche Fälle nicht (was ein typisches Merkmal kulturgebundener Syndrome ist). Die betroffenen Kinder oder deren Eltern kommen alle aus bestimmten Regionen, nämlich Osteuropa und dem Balkan. Alle betroffenen Familien befinden sich entweder in einem langen Asylprozess, oder ihr Asylantrag wurde abgelehnt. Und es gibt eine Therapie, die zuverlässig zur Heilung dieses Zustandes führt: Die Bewilligung des Asylantrags. Danach springen die Betroffenen aber nicht auf und schlagen Purzelbäume, sondern die Rekonvaleszenz kann wieder Wochen und Monate dauern. Folgeschäden sind jedoch nicht beschrieben.

Wie erklärt man sich solch eine bizarre Erkrankung? Natürlich gibt es einige Stimmen, die den Betroffenen unterstellen, schlicht zu simulieren. Und in jüngerer Vergangenheit gab es auch einige wenige dokumentierte Fälle, wo Kinder von ihren Eltern zu einem solchen Verhalten gezwungen wurden, um eine Annahme des Asylantrags zu erreichen. Eine weitaus bessere Erklärung für dieses Phänomen liegt jedoch in einer psychosomatischen Erkrankung, bei der der soziale Hintergrund der betroffenen Familien (die alle aus einer bestimmten Region kommen und daher kulturelle Überschneidungen aufweisen), gekoppelt mit dem langwierigen schwedischen Asylverfahren, dazu geführt hat, dass die dadurch entstehende psychische Belastung durch einen apathischen, Katatonie-ähnlichen Zustand verarbeitet wird. Damit zeigt das Uppgivenhetssyndrom deutliche Parallelen zu anderen kulturgebundenen Syndromen wie beispielsweise Grisi Siknis oder dem Havana-Syndrom. In diesen beiden Beispielen zeigt sich auch noch besser, dass solche Erkrankungen “übertragen” werden können, also ein beobachtetes Verhalten (unterbewusst) erlernt werden kann. So erklärt sich auch, wieso Patienten mit psychogenen Anfällen so häufig Patienten mit Epilepsie kennen: Nur wenn das Gehirn epileptische Krampfanfälle schon gesehen hat, kann es sie auch nachahmen.

Conclusio

Wenn ich ehrlich bin, dann war ich mir auch lange Zeit unsicher, ob es so etwas wie eine psychosomatische Erkrankung wirklich gibt. Oft werden Symptome, für die man keine andere Ursache findet, als psychosomatisch bezeichnet. In dieser Hinsicht sind psychosomatische Erkrankungen Ausschlussdiagnosen, für die man in Zukunft vielleicht organische Ursachen finden kann, wenn sich unsere diagnostischen Möglichkeiten verbessern. Es gibt aber den Trend, psychosomatische Erkrankungen als “positive” Diagnosen zu formulieren, d.h. Kriterien zu finden, anhand welcher man die Diagnose aktiv stellen kann und nicht erst, wenn “alles andere” ausgeschlossen wurde. So wird es mittlerweile z.B. beim Reizdarmsyndrom gehandhabt. Denn auch bei psychosomatischen Erkrankungen sind letztlich Strukturen im Körper verändert, aber eben auf eine diffusere Weise als bei “organischen” Erkrankungen, beispielsweise durch fehlerhafte Verschaltung von Nervenzellen, die man weder in einer Bildgebung noch in einer Biopsie darstellen kann. Und mit den entsprechenden Methoden lassen sich auch diese Veränderungen nachweisen.

Letztlich hat mich persönlich insbesondere das Beispiel der psychogenen nicht-epileptischen Anfälle überzeugt, da man hier eben sehr klar zeigen kann, dass kein “organischer” Grund ursächlich ist, wie beispielsweise eine Biopsie, sondern eine funktionelle (psychische) Störung vorliegt. Zuletzt möchte ich noch auf zwei Bücher hinweisen, die mir sehr geholfen haben, das Thema zu verstehen: It’s All In Your Head und The Sleeping Beauties von Suzanne O’Sullivan. Wer mehr wissen will, wird dort fündig werden, und vor allem auch viele interessante Fallberichte von echten Patienten entdecken. Ansonsten hoffe ich, klargestellt zu haben, wieso eine psychosomatische Erkrankung keine Einbildung ist und nichts mit “Verrücktsein” zu tun hat. Letztlich kann jeder Mensch an einem solchen Leiden erkranken.


Quellen:

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