Was ist Wissenschaft?

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Da meine Zeit diese Woche etwas knapp bemessen ist, schreibe ich nur einen (mehr oder minder) kurzen Artikel über Wissenschaft und was Wissenschaft überhaupt ist. Anlass dazu gibt ein Artikel von Ortwin Rosner im Standard, in dem er sich über die Wiener Skeptiker und ihren Negativpreis, das Goldene Brett vorm Kopf, echauffiert, der dieses Jahr an Sucharit Bhakdi für seine Corona-Desinformation verliehen wurde. Ich möchte ein paar Stellen seines Artikels zitieren, und dann erklären wo Missverständnisse liegen.

Disclaimer: wie im Intro-Post dieses Blogs bereits offengelegt, bin ich selber Mitglied der GWUP, deren Wiener Regionalgruppe das Goldene Brett vorm Kopf verleiht. Außer dieser Mitgliedschaft bin ich aber in keiner Weise an der Vergabe dieses Negativpreises beteiligt.

Wissenschaft, Fakten und die Wahrheit™

So heißt es in der Presseaussendung der Wiener Skeptiker unter anderem, dass Bhakdis Aussagen nicht auf „wissenschaftlichen Fakten“ beruhen und dass sie dem herrschenden „Konsens innerhalb der Wissenschaft widersprechen“.

Schon beim ersten Punkt muss ich innehalten. Auch wenn den Leuten vom Verein der Wiener Skeptiker ganz klar zu sein scheint, was das heißen soll, auch wenn es vielleicht ebenso vielen anderen ganz einleuchtend vorkommt: Mich irritiert er. Ich versuche mir nämlich vergeblich vorzustellen, was das sein soll: „wissenschaftliche Fakten“. In welcher Hinsicht kann „wissenschaftlich“ eine nähere Bestimmung von „Faktum“ sein?

Auch wenn Rosner ein wenig später auch zugibt, dass es sich hier nur um semantische Kleinigkeiten handelt, möchte ich seine rhetorische Frage gerne beantworten. Das ist nämlich nicht schwer, wenn man mal kurz nachdenkt. Ein wissenschaftlicher Fakt ist einer, der mittels der Methoden der Wissenschaft ermittelt wurde, oder sich auf den Bereich der Wissenschaft bezieht. Im Gegensatz dazu könnten manche Leute von politischen oder religiösen Fakten sprechen. Eigentlich ganz easy. Konkret ist ein wissenschaftlicher Fakt eine Idee, die durch Experimente und Empirie so gut belegt ist, dass es undenkbar ist, dass diese Idee falsch ist – und daher getrost als Fakt bezeichnet werden kann. Natürlich kann die Wissenschaft – streng genommen – nie etwas “beweisen”. Aber irgendwann ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Idee korrekt ist, einfach so groß, dass sie “ziemlich sicher” nie widerlegt werden wird – dann nennt man sie wissenschaftlich korrekt eine “Theorie”. Ob man davon jetzt ab einer 99-prozentigen oder einer 99,99999-prozentigen Wahrscheinlichkeit redet (und wie man das überhaupt berechnen will) ist erstmal egal. Aber sie erreicht streng genommen nie genau 100 Prozent. Aber wenn ein Ereignis mit 99,99999-prozentiger Wahrscheinlichkeit eintritt, dann gehe ich nicht vom Gegenteil aus. Das wäre irrational.

Zur Illustration brauchen wir ein Beispiel. Ein Paradebeispiel eines “wissenschaftlichen Faktums” ist die Evolution. Das Leben auf der Erde hat sich innerhalb der letzten 4 Milliarden Jahre langsam entwickelt. Grundlage dieser Evolution ist unsere DNA, in der sich mit der Zeit Veränderungen ansammeln, die dann natürlich selektioniert werden. Das wissen wir, weil verschiedenste Wissenschaftszweige genau zu diesem Schluss kommen: Wir sehen graduelle Veränderungen in Fossilen. Wir können die DNA von Organismen vergleichen, und so einen Stammbaum aller Lebewesen generieren – der zu großen Teilen mit Stammbäumen übereinstimmt, die man durch phänotypischen Vergleich einzelner Spezies erhält (also anhand ihres Aussehens). Wir können die Einflüsse von Veränderungen der DNA im Labor – und beispielsweise in Form von Erbkrankheiten auch in der “echten Welt” – untersuchen. Wir können sogar Evolution im Experiment beobachten. Das allerwichtigste ist jedoch: Aus der Evolutionstheorie ergeben sich Vorhersagen! Durch Vorhersagen wird eine Theorie ihrer wichtigsten Prüfung unterzogen. Wenn sie akkurate Angaben über die Zukunft macht, dann kann man davon ausgehen, dass sie eine gute Beschreibung unserer Realität ist. Ein berühmtes Beispiel kam von Darwin selbst, der auf seinen Reisen aus dem 40 cm langen Lippensporn einer Orchidee geschlossen hat, dass es einen Schmetterling mit einem ebenso langen Rüssel geben müsse, der nur so ihren Blütenstaub erreichen kann. Erst über 100 Jahre später konnte diese Vorhersage auch experimentell bestätigt werden – aber da Darwin Evolution verstanden hatte, konnte er solch eine Entdeckung prognostizieren. Tatsächlich erreicht die Wissenschaft, was kein Wahrsager, kein Hellseher, Astrologe oder sonstiger Mystiker je leisten konnte: Sie kann die Zukunft vorhersagen! Im Falle beispielsweise der Himmelskörper können wir deren Bahnen so gut beschreiben, dass wir Sonden zu allen Planeten unseres Sonnensystems schicken können, und sogar zu einzelnen Asteroiden. Wir können für Jahrhunderte im Voraus berechnen, wann wir welchen Kometen am Himmel sehen werden, und wann eine Sonnenfinsternis eintreten wird. Und dass die Sonne im Zentrum unseres Sonnensystems steht, ist ebenfalls ein “wissenschaftlicher Fakt.”

Die Tatsache, dass die Wissenschaft streng genommen immer bereit ist, jede bisherige Theorie zu verwerfen (oder, deutlich wahrscheinlicher, zu überarbeiten), darf nicht damit verwechselt werden, dass man “kaum etwas sicher und mit absoluter Gewissheit wissen [kann]”. Nachdem man gemerkt hat, dass Newtons Gravitationstheorie doch nicht alle Bewegungen der Himmelskörper exakt erklären kann, wurde die Theorie durch Einstein erweitert, so dass Newtons Gravitationsgesetz nur noch ein Spezialfall der größeren Relativitätstheorie war. Das bedeutet nicht, dass Newton falsch lag, sondern nur, dass er noch nicht alles wusste. Und dass ich mich nach einem Tritt vom Balkon mit 9,81 m/s² dem Erdboden nähere, kann ich sehr wohl “sicher und mit absoluter Gewissheit” wissen, auch wenn Rosner der Ansicht zu sein scheint, dass das nur Aberglaube sei:

Die von den Wiener Skeptikern anscheinend gepflegte Annahme aber, die Wissenschaft sei der Hort reiner, unumstößlicher Wahrheiten, an denen man nicht rütteln dürfe, ist in etwa so albern wie der Aberglaube, das Licht, das man bei einem Schamanenritual gesehen hat, sei das Antlitz Gottes gewesen.

Natürlich darf man nicht vergessen, dass es auch Teile der Wissenschaft gibt, in denen Wissen noch nicht so klar gefestigt ist, wie es die Evolutionstheorie oder die Beschreibung der Gravitation sind. Es gibt ein Spektrum, von glasklar bewiesenen Theorien wie diesen beiden, über Hypothesen, die sehr viel Evidenz hinter sich vereinen, aber noch nicht gänzlich unumstritten sind (quasi an der Schwelle zur Theorie stehen), bis hin zu Hypothesen die schon klar widerlegt wurden, beispielsweise dass Wasser ein Gedächtnis hat oder die Erde flach ist. Man darf also nicht eine frische Hypothese in einem aktuellen Forschungsfeld mit einer altbewährten Theorie verwechseln. Und an diesen Theorien darf man – im Gegensatz zu dem was Rosner behauptet – gerne rütteln, aber es ist eben die Natur einer Theorie, dass sie durch all das Rütteln immer noch nicht eingestürzt ist – sondern dadurch erst zu einer solchen wurde.

Man sollte insgesamt festhalten, dass die Wissenschaft die einzige Methode ist, die wir je entwickelt haben und uns zuverlässig sagen kann, was wahr und was falsch ist. Deswegen ist sie so eine gigantische Errungenschaft.

Wissenschaftlicher Konsens

Im zweiten Teil des Artikels zeigt Rosner, dass er nicht versteht, was Konsens unter Wissenschaftlern bedeutet:

Wir wenden uns daher dem zweiten Einwand zu, der gegen Bhakdi erhoben wird. Seine Aussagen würden dem „Konsens innerhalb der Wissenschaft widersprechen“. […]

Dieser zweite Vorwurf muss uns eigentlich erst einmal ein wenig verwundern. Denn er steht in einem gewissen Gegensatz zum ersten Kritikpunkt. Hat die Wissenschaft schließlich die „Fakten“ an sich in Händen, wozu braucht es denn dann noch einen „Konsens“? Hier wird aber mehr oder weniger zugegeben, dass die Wissenschaft doch nicht die „Fakten an sich“ in Händen hält, sondern diese vielmehr in einem sozialen Spiel ausgehandelt werden müssen.

Rosner scheint der Meinung zu sein, wissenschaftlicher Konsens bedeute, dass sich alle Wissenschaftler auf einer Konferenz treffen, dann darüber diskutieren, was sie denn gerne als Wahrheit für die nächsten Jahre festlegen würden, und das dann per Abstimmung festlegen. Je mehr für die gleiche Idee stimmen, desto “wahrer” wird sie. Was natürlich totaler Blödsinn ist.

Wissenschaft begründet sich durch Belege und Beweise, auch Evidenz genannt (eingedeutscht aus dem Englischen). Wenn keine einzige der zig Beobachtungen aus der Biologie der Evolutionstheorie widerspricht, dann bleibt letztlich nur der Schluss, dass Evolution wohl wahr sein muss. Jetzt kennen und verstehen aber die wenigsten Laien alle diese Beobachtungen, die in Studien und auf Englisch in komplizierter, präziser Fachsprache in Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Wer sich jedoch auf diesem Gebiet auskennt, kann alle diese Daten bewerten, und dann beurteilen, ob die Evolutionstheorie mit diesen Daten kompatibel ist, oder sie ihr widersprechen. Gibt es jetzt eine größere Anzahl an Experten, die meinen, auch eine andere Theorie (dann im Wissenschaftsjargon eigentlich als Hypothese bezeichnet) könne diese Daten ebenso gut erklären, dann scheinen beide Hypothesen wohl noch nicht optimal zu sein, und es bestehen Unklarheiten. An dieser Stelle muss ich kurz einschieben, dass Wissenschaftler super gerne alle Schwachstellen in den Hypothesen anderer offenlegen, beziehungsweise diese am liebsten direkt widerlegen. So gewinnt die Wissenschaft an Erkenntnis, und der Wissenschaftler gewinnt an Prestige. Wenn dann also eine überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler die Daten betrachtet, und alle zu dem gleichen Schluss kommen, dass es keine andere Erklärung geben kann außer – in unserem Fall – die Evolutionstheorie, obwohl sie nichts lieber tun würden als für ihre eigene Idee zu werben und zu argumentieren, dann ist das ein sehr deutliches Zeichen dafür, wie überzeugend und eindeutig diese Theorie sein muss. Mit anderen Worten, Konsens unter Wissenschaftlern ist ein starkes Indiz dafür, was wahr ist und was nicht. Denn ein Wissenschaftler, der eine solche Theorie widerlegen könnte, würde dadurch über Nacht zum wissenschaftlichen Superstar werden. Bei der Evolutionstheorie finden sich auch reihenweise Versuche, sie zu widerlegen (meistens religiös motiviert). Gelungen ist es noch nie. Kaum eine Theorie ist so eindeutig ein Fakt wie die Evolutionstheorie.

Gerade als Laie, der die Evidenz nicht selber beurteilen kann, ist wissenschaftlicher Konsens ein sehr guter Indikator, was wahr ist, und wo noch echte wissenschaftliche Kontroversen bestehen. Ich selber kenne mich mit Klimawissenschaft kein bisschen aus, bin aber trotzdem davon überzeugt, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt. Weil ich weiß, dass der Konsens unter Klimawissenschaftlern enorm groß ist, und ich weiß, wie Wissenschaft funktioniert. Das macht Wissenschaft auch nicht zu einer Sekte, trotz allem was Rosner behauptet.

Die Ursache der Esoterik

Zu guter Letzt beschwert er sich noch, dass Skeptiker nur darauf aus sind, zu sagen wieso Esoterik falsch ist, und nicht versuchen, das Phänomen zu verstehen:

Eine Erforschung der gesellschaftlichen Ursachen wird ausgespart. Niemals scheinen sich etwa die selbsternannten Verteidiger der Wissenschaft die Frage zu stellen, warum seit Mitte der 80er-Jahre die New-Age-Szene einen derartigen Zulauf erhält, warum sie sich zu einem derartigen Markt entwickelt hat, mit was für globalen Entwicklungen das zusammenhängt und wie das mit der politisch-ökonomisch-gesellschaftlichen Situation der Menschen und im Speziellen vielleicht auch mit dem Kapitalismus und dem Neoliberalismus zu tun haben könnte.

Das reiht sich in gewisser Weise schön in seine vorherigen Behauptungen ein, denn auch das ist schlicht und ergreifend Blödsinn. Als Beispiel möchte ich nur den ersten Artikel der aktuellen Ausgabe (4/2020) des “Skeptikers” (die Zeitschrift der GWUP, die viermal jährlich erscheint) anführen, in dem es um Verschwörungsmythen geht (und den ich heute zufällig gelesen habe). Er handelt nicht etwa davon, wieso alle Verschwörungsmythen falsch und blödsinnig sind. Sondern darum, wieso Leute so etwas glauben, und was diese Menschen ausmacht, was für Charaktereigenschaften sie haben. Davon, dass sich Skeptiker also “niemals” mit so etwas beschäftigten, kann schnell widerlegt werden. Ganz im Gegenteil, die psychologischen Mechanismen, die Leute dazu bringen, an Unwahrheiten und Esoterik zu glauben, an Verschwörungsmythen oder Pseudomedizin, sind essenzieller Bestandteil der Arbeit der Skeptiker. Ein wichtiger Teil kritischen Denkens, das wir vermitteln wollen, ist das Wissen über kognitive Biases, also Unzulänglichkeiten unseres Denkvermögens, die solche Phänomene einerseits erklären können, andererseits aber auch dabei helfen, ihnen nicht anheimzufallen. Eines dieser Biases, ihr ahnt es schon, trägt den schönen Namen Post hoc ergo propter hoc, der besonders in der Medizin allgegenwärtig ist. Aber auch über andere kognitive Biases werde ich in Zukunft noch schreiben.

Und wieso aber dieser Preis?

Zu guter Letzt möchte ich noch einen Satz zum Goldenen Brett vorm Kopf verlieren, und wieso solche Negativpreise meiner Meinung nach durchaus ihre Berechtigung haben. In der Wissenschaftskommunikation findet sich oft das Phänomen der “False Balance”. Ganz typisch kommt das in Talkshows vor. Da redet dann ein Wissenschaftler darüber, dass der Mensch den Klimawandel verursacht. Auf der anderen Seite sitzt ein Schwurbler und erzählt, dass es so etwas wie einen Klimawandel gar nicht gäbe, und wirkt mithilfe einiger rhetorischer Tricks vielleicht sogar ganz überzeugend. Der Wissenschaftler hingegen wirkt eher etwas steif und verkopft. Beim Publikum kommt dann nur an, dass jeder eine Seite eines Spektrums vertritt, und daraus wird dann der Schluss gezogen, dass die Wahrheit vermutlich irgendwo in der Mitte liegt. So ein Kompromiss mag in der Politik sinnvoll sein, hat aber in der Wissenschaft nichts verloren. Denn in diesem Beispiel hat eine Partei schlicht Recht, und die andere liegt falsch. Um dieser False Balance entgegenzuwirken, kann es durchaus sinnvoll sein, klarzustellen, dass eine der beteiligten Parteien keinerlei Verankerung in der Wissenschaft hat, sondern sich einfach Sachen aus den Fingern zieht. Und damit die Message auch ankommt, kann man sich dafür eines humoristischen Negativpreises bedienen. Denn Falschaussagen über SARS-CoV-2 mitten in einer Pandemie können durchaus lebensbedrohlich sein.

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