Die Borreliose-Impfung, oder: Der Sieg der Impfgegner

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Letzte Woche gab es eine Artikelpause, da ich zu wenig Zeit hatte, den heutigen Artikel so gut zu recherchieren, wie ich es wollte. Da ich gerade wenig Valenzen habe, könnte es dazu kommen, dass ich temporär in einen zweiwöchigen Rhythmus übergehe. Vielleicht werde ich aber auch die Zeit mit kürzeren Posts überbrücken. Es geht aber auf jeden Fall weiter.

Impfmythen sind gefährlich. Das merkt man während Corona besonders deutlich. Zum Glück schreiten die Corona-Impfungen trotzdem immer schneller voran. Doch dass eine sichere und wirksame Impfung automatisch auch akzeptiert wird, ist nicht selbstverständlich. Nicht immer siegt die Vernunft. Manchmal siegt auch die pure Irrationalität. Diese Woche soll es um einen solchen “Sieg” der Irrationalität gehen, bei dem eine wirksame Impfung durch die Impfgegnerschaft vollständig vom Markt getrieben wurde – nämlich eine Impfung gegen die Lyme-Borreliose, die um die Jahrtausendwende herum in den USA verfügbar war.

Zecken sind Dreckschleudern

Je nachdem wo man wohnt, kommt man um Kontakt mit Zecken nicht herum. Wer einen Hund oder eine Katze hat, wird bei ihnen mit Sicherheit schon einmal eine Zecke entfernt haben müssen. Und ein guter Teil der Bevölkerung wird auch bei sich selber schon einmal eine Zecke bemerkt haben. Wie man eine Zecke korrekt entfernt, ist z.B. hier gezeigt. Wieso ist die Entfernung aber notwendig? Die Blutmenge, die eine Zecke bei einem Stich zu sich nimmt, ist für uns schließlich vollkommen irrelevant. Blut haben wir genug. Aber Zecken können eine Vielzahl an Krankheitserregern übertragen. Dazu zählen in Deutschland insbesondere die Borrelien (Bakterien, welche die Lyme-Borreliose verursachen) und das Frühsommer-Meningoenzephalitis-Virus (besser bekannt unter der Abkürzung FSME). Aber auch z.B. die Erreger der Tularämie (“Hasenpest”), des Q-Fiebers oder Rickettsien werden durch Zeckenstiche übertragen. Wohingegen gegen die FSME eine wirksame Impfung existiert, die zumindest in den entsprechenden Risikogebieten auch eingesetzt werden sollte, gibt es eine solche für keine der anderen Krankheiten. Bei der Lyme-Borreliose war das aber nicht immer so. 

Streng genommen sticht eine Zecke mit ihrem Stechrüssel (“Hypostom”) durch die Haut. Man sollte also eher vom Zeckenstich als vom Zeckenbiss sprechen; wirklich unterschieden werden die beiden Begriffe in der Alltagssprache aber nicht. Im Englischen spricht man ohnehin ausschließlich vom tick bite.

Lyme ist übrigens eine Stadt in den USA und der Entdeckungsort der Borreliose, die ihr dann auch den Namen gegeben hat. Lyme wird also englisch ausgesprochen und klingt wie das deutsche Wort Leim.

Lyme-Borreliose

Ist eine Zecke mit Borrelien infiziert, und verbleibt sie nach ihrem Stich länger als 24 h an ihrem menschlichen Wirt, dann können die Bakterien auf den Menschen übertragen werden. Dann kommt es zu einer Lyme-Borreliose, die grob in zwei Stadien verläuft. Zunächst kommt es im ersten Stadium, Tage bis wenige Wochen nach dem Zeckenstich, zur sog. Wanderröte (Erythema migrans), also einer Rötung der Haut, die sich mit der Zeit ausbreitet (was man gut erkennt, wenn man den Rand mit einem Edding markiert). Das ist zunächst noch harmlos. In dieser Zeit breiten sich die Erreger jedoch im ganzen Körper aus und können dann in den späteren Stadien, nach Monaten und Jahren eine ganze Vielzahl an Symptomen und Problemen verursachen. Grob kann man vier “Problemfelder” unterscheiden:

  1. Gelenkentzündungen (Arthritis), die meistens das Knie, das Sprunggelenk oder den Ellenbogen betreffen. Oft ist der Verlauf intermittierend, d.h. es kommt zu Arthritis-Schüben, gefolgt von Phasen ohne Symptome; mit der Zeit kann aber auch eine dauerhafte Gelenkentzündung entstehen. Das Gelenk kann dauerhaft geschädigt werden.
  2. Auf verschiedenste Arten und Weisen kann Nervengewebe angegriffen werden (Neuroborreliose), beispielsweise durch Lähmungen von Muskelnerven. Auch hier kann die Lähmung permanent sein.
  3. Auch die Haut kann (abseits der Wanderröte) betroffen sein. Dieser Zustand wird Acrodermatitis chronica atrophicans genannt und beschreibt eine Haut, die ihr Fettgewebe verliert, sich gräulich verfärbt, und dadurch ganz dünn wirkt, was als Zigarettenpapierhaut beschrieben wird. Auch hier können Nerven der Haut geschädigt werden. Diese Veränderung bildet sich i.d.R. auch nicht mehr zurück.
  4. In sehr seltenen Fällen kann es zu einer Entzündung des Herzens kommen, und dadurch zu Herzrhythmusstörungen. Diese können zwar tödlich verlaufen, sind aber auch die einzige Möglichkeit, wie man an der Lyme-Borreliose versterben kann. Im Vordergrund stehen die Bewegungseinschränkung durch den Gelenk- und Nervenbefall, die Schmerzen und die Invalidität (die auch nach Ausheilung (bzw. Therapie) der Erkrankung fortbestehen kann).

Wird eine Lyme-Borreliose erkannt, ist sie sehr gut antibiotisch behandelbar. Es gibt bei den Borrelien keine Resistenzen gegen Antibiotika, die Therapie ist daher eigentlich immer erfolgreich. Problematisch ist eher die Diagnosestellung, da es keinen eindeutigen Test gibt, sondern nur solche, die Hinweise geben. Die Wanderröte ist zwar sehr charakteristisch, wird aber oft übersehen (oder ignoriert), und tritt auch nicht immer auf. Und wenn man die Erkrankung zu spät behandelt, können schon dauerhafte Folgeschäden aufgetreten sein (was heutzutage zum Glück selten geworden ist). Und auch eine Antibiotikatherapie, die hier bis zu einem Monat dauern kann, ist nicht ganz ohne Risiko. Es lohnt sich also, nach einem Aufenthalt im Freien, insbesondere im hohen Gras, sich abends nach Zecken abzusuchen. Entfernt man die Zecke innerhalb von 24 Stunden, dann konnten die Bakterien noch nicht übertragen werden. Trotzdem wäre es natürlich – insbesondere für Risikogebiete – von Vorteil, wenn es eine Impfung gegen die Lyme-Borreliose gäbe. Und wie bereits erwähnt gab es eine solche sogar schon. Wieso sie wieder vom Markt verschwunden ist, darum soll es in diesem Post eigentlich gehen. Die Geschichte der Borreliose-Impfung ist eine Warnung, wie gefährlich Irrationalität und gefühlte Wahrheiten sein können.

Es gibt übrigens keine “chronische Lyme-Borreliose”, also eine Erkrankung, die durch persistierende Borrelien nach einer antibiotischen Behandlung ausgelöst werden soll. Wie schon erwähnt, werden durch eine Standardtherapie (die eine bis maximal vier Wochen dauert) alle Bakterien eliminiert. Solch eine Diagnose wird aber von manchen Quacksalbern vertreten, um Symptome zu erklären und zu kurieren, die meistens hochgradig unspezifisch sind (Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Konzentrationsschwäche) und in keinem nachweisbaren Zusammenhang zu einer Lyme-Borreliose stehen. Hier werden dann u.a. Antibiotika über sehr lange Zeiträume verschrieben (teils jahrelang!), was für eine Borreliose viel zu lange ist und neben Nebenwirkungen natürlich auch zu Resistenzen anderer Bakterien in und auf unserem Körper führen kann. Was es hingegen durchaus gibt, ist eine (Lyme-)Arthritis, die nach Antibiotikatherapie nicht wieder verschwindet. Hier werden die Erreger zwar eliminiert, trotzdem verschwindet die Entzündung im Gelenk nicht. Die Ursache hierfür ist aber noch unklar.

LYMErix

Die Borreliose-Impfung hieß LYMErix und wurde von SmithKline Beecham (heute GlaxoSmithKline) entwickelt und 1998 in den USA zugelassen. Es waren drei Impfdosen erforderlich. Das Impfantigen war ein Oberflächenprotein des Bakteriums. Der Wirkmechanismus war folgender: Mit der Blutmahlzeit der Zecke gelangen die gegen dieses Impfantigen gebildeten Antikörper in den Darm der Zecke, und zerstörten dort die Erreger, noch bevor sie auf den Menschen übertragen wurden.

Die Zulassungsstudie wurde 1998 im New England Journal of Medicine publiziert. Knapp 11.000 Probanden nahmen teil; eine Hälfte bekam den Impfstoff, die andere Hälfte ein Placebo. Der Impfstoff wurde an Tag Null, nach einem Monat und nach einem Jahr appliziert (drei Impfdosen). Die Studie lief zwei Jahre lang. Im Jahr nach der letzten Impfung hatten sich 16 Patienten aus der Verum-Gruppe und 66 Patienten aus der Placebo-Gruppe infiziert, woraus sich eine Effektivität von 76% berechnet. Das bedeutet statistisch gesprochen: Von vier Personen, die sich sonst infiziert hätten, hat nach der Impfung nur noch eine Person die Erkrankung bekommen. Dreiviertel der Erkrankungen konnten also verhindert werden. Abgesehen von harmlosen Impfreaktionen gab es hinsichtlich der Nebenwirkungen keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen beiden Gruppen.

Viel wichtiger noch als die reine Effektivität und Sicherheit der Impfung ist häufig (leider, könnte man sagen) ihre Wirtschaftlichkeit. Aber auch hier war klar: Die Impfung war durchaus kosteneffizient. Die Kosten, durch Impfungen einen Fall von Lyme-Borreliose zu verhindern, beliefen sich gerade mal auf knappe 5000 $. In Hochrisikogebieten konnte durch den Einsatz der Impfung sogar Geld eingespart werden.

Die Impfung wurde jedoch nicht zu den Routineimpfungen genommen, die jedes Kind in den USA erhalten sollte, sondern war für diejenigen vorbehalten, die ein besonders hohes Risiko hatten, sich mit der Krankheit zu infizieren (zum Beispiel weil sie in einem Hochrisikogebiet wohnen oder beruflich im Wald arbeiten). Sie wurde auch nur für Menschen zwischen 15 und 70 Jahren empfohlen. Wie bei jeder Impfung (und jedem Medikament) begann nach der Zulassung die sogenannte Phase 4 der Arzneimittelzulassung, also eine Überwachung insbesondere sehr seltener Nebenwirkungen, die man in der Zulassungsstudie nicht erkennen konnte (da man nur eine begrenzte Anzahl an Teilnehmern in eine Studie einschließen kann). Und diese Überwachung funktioniert sehr gut, wie man z.B. daran erkennt, dass die Nebenwirkung der Sinusvenenthrombosen bei Vektorimpfstoffen gegen Covid-19 (AstraZeneca, Johnson&Johnson) sehr schnell erkannt wurde, obwohl sie wirklich sehr selten ist. Im Fall der Borreliose-Impfung gab es kurz nach der Zulassung und dem Einsatz in den Arztpraxen Berichte von Arthritis nach der Impfung (und auch von anderen Nebenwirkungen). Solch eine vermeintliche Nebenwirkung muss man natürlich ernst nehmen – wenn der Erreger Arthritis verursachen kann, dann ist es durchaus plausibel, dass auch eine Immunreaktion gegen das Impfantigen Arthritis verursachen kann. Über den möglichen Mechanismus wurde viel spekuliert. Wie Leser dieses Blogs jedoch wissen: Biologische Plausibilität reicht nicht aus, um einen Zusammenhang zu etablieren! Wir brauchen immer auch empirische Daten. In der Zulassungsstudie wurde kein Unterschied zwischen der Verum- und der Placebogruppe bei allen Nebenwirkungen gefunden (mit Ausnahme von Impfreaktionen wie Fieber oder Schmerzen an der Einstichstelle, die mehr Wirkung als Nebenwirkung sind). Und in der Phase 4, in der man natürlich keine Kontrollgruppe mehr hat, muss man jetzt anschauen, ob Arthritis häufiger nach der Impfung auftritt als in der Allgemeinbevölkerung generell – unabhängig von der Borrelienimpfung. Das nennt man auch die Hintergrundinzidenz. Darauf ließ sich jedoch kein Hinweis finden. Trotzdem hielt sich diese Ansicht in Teilen der Bevölkerung und insbesondere in den Medien – die wieder einmal dem so verführerischen Post hoc ergo propter hoc-Fehlschluss erlegen sind. Denn für eine Arthritis gibt es viele Ursachen, und gerade Gelenkschmerzen (die noch nicht einmal entzündlich bedingt sein müssen) sind unglaublich häufig. Die Wahrscheinlichkeit, kurz nach der Impfung Gelenkschmerzen zu bekommen (und diese als Laie mit einer Arthritis zu verwechseln), ist daher enorm groß – vor allem wenn man bedenkt, dass ja drei Impfdosen nötig waren, und es somit drei Gelegenheiten für diesen Fehlschluss gab. Auf einen kausalen Zusammenhang zur Impfung kann man daraus aber noch nicht schließen. Dazu braucht es epidemiologische Studien, die allesamt keinen kausalen Zusammenhang zeigen konnten.

Trotzdem wollte sich nach dieser schlechten Presse kaum jemand mehr mit LYMErix impfen lassen. Zusätzlich wurde reihenweise gegen SmithKline Beecham geklagt. Als Reaktion blieb der Firma nicht anderes übrig, im Jahr 2002 (nur vier Jahre nach Zulassung) LYMErix wieder vom Markt zu nehmen – ohne dass es jemals eine Studie gegeben hat, die zeigen konnte, dass diese Impfung irgendeine Nebenwirkung hätte.

Dass Pharmafirmen Impfstoffe vom Markt nehmen, da sie sich durch viele (meist wissenschaftlich unbegründete) Klagen rein wirtschaftlich nicht mehr lohnen, ist in Amerika schon öfters vorgekommen. Dort stand man sogar schon vor der Situation, dass der wichtige Impfstoff DPT (gegen Diphtherie, Pertussis (Keuchhusten) und Tetanus (Wundstarrkrampf)) wegen der Pertussis-Komponente fast gar nicht mehr produziert wurde, weil gegen alle Hersteller reihenweise Klagen eingingen (wegen Enzephalitiden, die angeblich durch die Impfung verursachen sein sollten, deren Ursache sich dann allerdings als eine Form der kindlichen Epilepsie herausstellte – von einer Verbindung zum Pertussis-Impfstoff keine Spur). In den USA wurde daraufhin 1986 das National Vaccine Injury Compensation Program eingeführt, was bedeutete, dass man, bevor man eine Pharmafirma wegen eines Impfstoffs verklagt, zunächst durch ein spezielles Gericht muss, das sich speziell mit Impfschäden beschäftigt. So wurden Pharmahersteller vor ungerechtfertigten Klagen geschützt, und die Versorgung mit Impfstoffen sichergestellt – und trotzdem stellen heute nur noch wenige Pharmazieunternehmen Impfstoffe her. Relativ gesehen sind andere Medizinprodukte weitaus lukrativer, und bergen viel weniger Risiken durch Klagen.

Und auch wenn die absoluten Umsätze von Impfungen mit geschätzten 25 Milliarden US-Dollar weltweit jährlich durchaus beträchtlich sind – das ist nur etwa das Doppelte des Umsatzes, der mit dem Medikament Lipitor gemacht wird, das nur ein Präparat eines einzelnen Wirkstoffs (nämlich Atorvastatin) aus einer ganzen Wirkstoffgruppe ist.

Und in Europa?

Hier in Europa ist die Situation nochmal etwas komplexer. Im Gegensatz zu Nordamerika kommen hier noch zwei weitere Borrelien-Spezies vor, die ebenfalls die Lyme-Borreliose verursachen können. Diese beiden Spezies verursachen auch etwas andere Symptome. Wohingegen hier jedoch die Gelenkbeteiligung seltener ist als in Nordamerika, kommt es häufiger zur Neuroborreliose oder zur Erkrankung der Haut und ihrer Nerven. Auch gegen diese beiden zusätzlichen Borrelientypen hatte SmithKline Beecham ursprünglich eine Impfung entwickelt, diese nach dem Rückzug vom amerikanischen Markt jedoch gar nicht mehr getestet. Wir hätten also auch in Europa schon längst eine Borrelienimpfung haben können.

Stand heute

Auch aktuell wird durchaus noch an Borreliose-Impfstoffen geforscht (wenn auch eher auf Sparflamme). Diese Studien sind teils auch wirklich vielversprechend, aber werden von den Pharmafirmen oft nicht wirklich weiterverfolgt. Eine ganz besonders interessante Idee ist es, dass man direkt gegen Zecken selbst impfen kann (also wirklich gegen das Tier, nicht gegen die durch sie übertragenen Erreger; umgangssprachlich wird die FSME-Impfung ja oft “Zeckenimpfung” genannt – was natürlich Blödsinn ist)! Dann könnte eine Zecke gar nicht mehr stechen, ohne direkt vom Immunsystem attackiert und abgewehrt zu werden; dadurch würden sie gar keine der vielfältigen Krankheitserreger mehr übertragen können. Aktuell ist das aber noch Zukunftsmusik. Es bleibt abzuwarten, inwiefern hieraus wirklich mal eine Impfung entsteht. Es ist aber ein genialer neuer Ansatz.

Die Anzahl der Borreliosefälle nimmt seit Jahren zu. Das könnte dazu führen, dass immer mehr Menschen die Erkrankung kennen (und respektieren lernen), und dadurch auch eher den Nutzen einer Impfung verstehen. Vielleicht gibt es für die Borreliose-Impfung also noch ein Comeback. Bis dahin aber werden Borrelien noch viele Menschen permanent schädigen und verkrüppeln. Viele dieser Fälle hätten durch LYMErix oder eine ähnliche Impfung verhindert werden können. Ob sich die Impfgegner über solch einen Sieg wirklich freuen können?

Quellen:

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