Passive und aktive Entscheidungen

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In der Ethik gibt es ein klassisches Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, ein Zug fährt auf einer Schiene entlang. An die Schiene gefesselt befinden sich fünf Menschen, und der Zug fährt direkt auf sie zu. Davor aber kommt der Zug an eine Weiche, welche den Zug auf eine zweite Schiene umlenkt. Auf dieser Schiene liegt ebenfalls ein Mensch gefesselt. Du stehst an einem Schalter, welche die Weiche umstellen und den Zug auf die zweite Schiene umlenken würde. Dadurch kann zwar das Leben der fünf Menschen auf Schiene 1 gerettet werden, verdammt aber den Mensch auf Schiene 2 zum Tode.

Das Trolley-Problem. Quelle: wikipedia. Lizenz: creative commons.

Die meisten Leute haben Probleme damit, sich zu entscheiden, ob sie den Schalter umlegen würden oder nicht. Wenn man sie fragen würde, ob bei einem Verkehrsunfall lieber einer oder fünf Menschen sterben sollen, dann würde sich vermutlich niemand für die fünf Menschen entscheiden. Je weniger Menschen sterben, desto besser. Trotzdem empfinden wir bei der Idee, mit unserer Handlung eine “unbeteiligte” Person zu töten, Unbehagen (auch wenn in Umfragen etwa 90 % den Schalter betätigen würden). Der Unterschied liegt darin, dass wir hier eine aktive Entscheidung treffen, und uns aktive Entscheidungen immer schwerer fallen als passive.

Risikoabwägung

Im echten Leben sind wir ständig mit solchen Entscheidungen konfrontiert. Hier hat unsere Abneigung, aktive Entscheidungen zu treffen, jedoch mitunter drastische Folgen. Ein Beispiel hierfür können wir derzeit live mitverfolgen. Obwohl die zugelassenen Corona-Impfstoffe mit einem weitaus geringeren Risiko einhergehen, als das für eine Coronainfektion der Fall wäre, entscheiden sich viele Menschen gegen die Impfung. Oft lautet die Argumentation etwa so: “Auch die Impfung birgt ein kleines Risiko. Ich warte lieber ab. Wenn ich mich dann mit Corona infizieren sollte, dann ist es halt so. Da kann man dann eben nichts dran ändern.” Leider liegt hier ein Denkfehler zugrunde. Denn der Punkt ist: so etwas wie eine passive Entscheidung gibt es nicht. Im Falle der Coronaimpfung entscheide ich mich entweder dafür oder dagegen. Aber beide Male ist es letztlich eine aktive Entscheidung, auch wenn sich die Entscheidung gegen die Impfung nicht so anfühlt.

Was wäre denn die sinnvollere Herangehensweise? Wenn man vor der Wahl zwischen zwei Alternativen steht, dann muss man Nutzen und Risiko beider Alternativen abwägen, ins Verhältnis setzen und dann vergleichen, welche Alternative das bessere Nutzen/Risiko-Verhältnis zeigt. In der Medizin ist das Gang und Gäbe, letztlich brauchen wir Ärzte nur dafür, diese Abschätzung möglichst gut vornehmen zu können, da sie einiges an Vorwissen erfordert. Im besten Fall lassen sich diese Chancen und Risiken mit konkreten Wahrscheinlichkeiten beziffern. Im Falle der Coronaimpfung gilt folgendes. Der Schutz vor einem schweren Verlauf ist auch bei der Delta-Variante noch fast 100 %. Das Risiko (bei den mRNA-Impfstoffen) einer Nebenwirkung ist enorm gering. Als einzige echte Nebenwirkung kann es nach derzeitigem Kenntnisstand zu einer Myokarditis (Herzmuskelentzündung) kommen, deren Wahrscheinlichkeit mit ca. 1:1.000.000 angegeben wird. Davon sind die meisten Fälle mild und bedürfen keiner Therapie. Im Falle der Entscheidung gegen eine Impfung gilt hingegen folgendes. Dadurch, dass das Virus weiterhin durch die Bevölkerung zirkuliert, wird man sich über kurz oder lang mit dem Virus infizieren. Die Letalität, also das Risiko an dieser Infektion zu sterben, liegt dann grob bei etwa 0,5 %. Überlebt man die Infektion, kann es zu Langzeitfolgen (long Covid) kommen, deren Häufigkeit noch nicht klar sind (aber vielleicht so im Bereich 1:100 bis 1:10.000 liegen werden). Auch hier kann es selten zu Komplikationen kommen, beispielsweise auch einer Myokarditis (die generell bei vielen viralen Infekten auftreten kann). Stellt man nun Nutzen und Risiken beider Möglichkeiten einander gegenüber, gibt es eigentlich nur eine sinnvolle Entscheidung, nämlich sich impfen zu lassen (weswegen die Impfung ja auch durch die STIKO empfohlen wird). Natürlich kann man jetzt für einen individuellen Menschen eine genauere Analyse der Risiken machen (z.B. ist die oben genannte Letalität über alle Altersstufen gemittelt, wobei wir natürlich wissen, dass Alte ein viel größeres Risiko haben als Junge). Das Prinzip bleibt das gleiche. Wichtig ist es, sich nicht von der Illusion täuschen zu lassen, eine “passive” Entscheidung sei automatisch besser.

Dass wir immer passive Entscheidungen bevorzugen gilt natürlich auch nicht immer. Bei einer schwerwiegenden Diagnose beispielsweise scheint es oft keine Option zu sein, keine Maßnahmen mehr durchzuführen. Stattdessen sind wir hier durchaus bereit, uns einer unsinnigen Operation oder einer hochexperimentellen Therapie zu unterziehen. Unser Gehirn sagt uns: Besser, “irgendetwas zu tun” als untätig zu bleiben. Eine Nutzen-Risiko-Abwägung ist für unsere Intuition (leider) nachrangig.

Beispiel Sterbehilfe

Ein weiteres Beispiel soll diese Problematik erläutern. Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das damals geltende Verbot des “unterstützten Suizids”, also des Bereitstellens von tödlichen Medikamenten durch Ärzte, gekippt. Seitdem ist der unterstützte Suizid in Deutschland wieder erlaubt. Weiterhin verboten bleibt die Tötung auf Verlangen, d.h. das Verabreichen eines tödlichen Medikaments durch einen Arzt. Wohingegen in Deutschland viel über den unterstützten Suizid diskutiert wird, ist die Tötung auf Verlangen ein Tabuthema, das von keiner der etablierten Parteien angegangen werden möchte. Ein kurzes Fallbeispiel soll jedoch erläutern, wieso der Unterschied zwischen beiden Formen der Sterbehilfe nicht so groß ist, wie es den Anschein hat.

Angenommen, ein Mensch ist in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt. Er wird mit dem Rettungswagen in die Klinik gebracht, wo er beatmet werden muss. In der Zwischenzeit wurden jedoch die Angehörigen verständigt, die mit der Patientenverfügung des Patienten in die Notaufnahme kommen. Diese sagt eindeutig, dass der Patient im Falle eines Unfalls nicht maschinell beatmet werden will. Daraufhin schalten die Ärzte die maschinelle Beatmung ab, und der Patient verstirbt. So würde die Situation heute in Deutschland aussehen, denn oberste Priorität hat der freie Wille des Patienten. Niemand kann zu einer Behandlung gezwungen werden. Wenn die Patientenverfügung hinreichend eindeutig formuliert ist, dann wäre das geschilderte Szenario nicht unrealistisch. Nehmen wir aber an, ich würde in meiner Patientenverfügung festhalten, dass ich im Falle eines Verkehrsunfalls die Gabe eines tödlichen Medikaments wünsche, beispielsweise, weil ich nicht lange in einem Koma dahinvegetieren will. Wobei die Begründung hier nicht ausschlaggebend sein darf, wie auch schon das Bundesverfassungsgericht im Urteil letzten Jahres festgelegt hat, sondern der freie Wille des Patienten. Aber in diesem Fall könnte mein Wille heutzutage nicht umgesetzt werden, da die Gabe eines tödlichen Medikaments weiterhin verboten bleibt. Wo aber besteht der Unterschied zum ersten Beispiel? Im ersten Beispiel wird der Patient passiv sterbengelassen, im zweiten Beispiel müsste er aktiv getötet werden – wobei auch im ersten Fall aktiv die Maschinen abgeschalten werden. Die Grenze zwischen “aktiver” und “passiver” Sterbehilfe verschwimmt. Hier zeigt sich also wieder, dass der Unterschied zwischen passiven und aktiven Entscheidungen gar keiner ist, sondern eine Illusion. Es gibt nur zwei Alternativen, und ich muss mich für eine von beiden entscheiden – was immer ein aktiver Prozess ist.

Conclusio

Was möchte ich mit diesem Artikel erreichen? Zum einen möchte ich anregen, über die Coronaimpfung und das wichtige Thema Sterbehilfe nachzudenken. Doch eigentlich dienen mir diese beiden Themen nur als Beispiele, um auf eine weitere kognitive Unzulänglichkeit hinweisen. Letzte Woche habe ich bereits über den Appell an die Natürlichkeit geschrieben: Die einprogrammierte Tendenz des Menschen, “natürlich” mit “gut” gleichzusetzen. Genauso haben wir in vielen Fällen, wenn wir vor die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten gestellt werden, die Tendenz, diejenige zu wählen, die eingetreten wäre, wenn wir gar nichts von der zweiten Möglichkeit erfahren hätten (beispielsweise der Möglichkeit, den Zug mittels eines Schalters umlenken zu können). A priori ist jedoch keine der beiden Möglichkeiten besser als die anderen; wir sollte daher immer Nutzen und Risiko beider Alternativen bewerten und ausgehend davon unsere Entscheidung treffen.

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