Polio

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Kinderkrankheiten sind nicht harmlos. Auch wenn man bei der Bezeichnung etwas anderes vermuten könnte. Kinderkrankheiten sind gefährlich; sie helfen nicht, das Immunsystem zu stärken oder haben andere gesundheitliche Vorteile, sondern sind letztlich nur ein unnötiges Risiko. Jede verhinderte Kinderkrankheit ist ein Erfolg. Wie gefährlich Kinderkrankheiten sein können, das haben wir als Gesellschaft aber vergessen. Denn wir erleben keine Epidemien mehr, in denen reihenweise Kinder dahingerafft werden. Wir kennen niemanden mehr persönlich, der ein Kind an Keuchhusten oder Diphtherie, den Würgeengel der Kinder, verloren hat. Wir kennen die Hallen in den Kinderkliniken nicht mehr, die vollgestellt waren mit eisernen Lungen, in denen kranke Kinder lagen, die ohne sie nicht mehr atmen konnten. Wir kennen sie nicht mehr, weil es sie nicht mehr gibt, weil diese Krankheiten durch konsequente Impfungen viel seltener geworden sind. Polio, die Kinderlähmung, über die es heute gehen soll, haben wir sogar fast ausgerottet – was uns bislang nur bei den Pocken gelungen ist.

Poliomyelitis

“Polio.” Vermutlich erweckt “Lord Voldemort” heute mehr Angst als das so harmlos klingende Wort “Polio.” Sie gehört aber mit zu den verheerendsten Erkrankungen, die wir kennen.

Die Polio heißt eigentlich Poliomyelitis und ist eine Viruserkrankung. Das Poliovirus gehört zu der Gruppe der Enteroviren, und wie der Name vermuten lässt, infiziert Polio daher primär den Darm und wird auch über den Stuhl übertragen. Polio ist super infektiös und hat sich früher, insbesondere Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts, in Epidemien verbreitet. In den meisten Fällen merkt man von der Infektion aber gar nichts. Und auch wenn man eine symptomatische Infektion hat, dann sind es meistens nur harmlose, unspezifische Infektionssymptome. Aber in etwa 0,1-2% der Fälle werden bestimmte Nervenzellen im Rückenmark infiziert, nämlich die alpha-Motoneurone. Das sind diejenigen Nervenzellen, die nach dem entsprechenden Impuls aus dem Gehirn mit ihren Nervenfortsätzen bis zu den entsprechenden Muskeln ziehen und diese aktivieren. Sie liegen in der (vorderen) grauen Substanz des Rückenmarks und geben der Erkrankung damit ihren Namen: aus dem griechischen polios für grau und myelos für Rückenmark. Fallen die alpha-Motoneurone aus, zeigt sich das als (schlaffe) Muskellähmung. Die Betroffenen humpeln oft, brauchen einen Gehstock oder gar einen Rollstuhl, um sich fortbewegen zu können. Und diese Lähmungen können auch permanent sein. Schließlich sterben die Motoneurone ab. Bei Beteiligung der Atemmuskulatur ist die Krankheit auch lebensbedrohlich.

Die eiserne Lunge

Wenn die Atemmuskulatur aussetzt, dann muss sie ersetzt werden. Früher wurden dazu die eisernen Lungen verwendet, die für die Patienten geatmet haben. Auch heute gibt es noch wenige Menschen, die diese Geräte brauchen (leider ohne deutsche, aber immerhin mit englischen Untertiteln):

Ich glaube, Paul beschreibt in dem Video sehr gut, wie sehr Polio damals gefürchtet war und was für eine verheerende Erkrankung Polio ist. Wie schon erwähnt, verlief die Polio oft in Epidemien. Dabei gab es keinen sicheren Weg, sich zu schützen – die meisten Infektionen verlaufen asymptomatisch! Jede und jeder könnte prinzipiell infektiös sein. In einer solchen Situation kann man zwar Kontakte mit anderen Kindern vermeiden, aber es gibt keinerlei Garantie, dass das eigene Kind sich nicht doch mit dem Virus infiziert – und dann vielleicht schwere Muskellähmungen davonträgt oder gar stirbt. Wie Paul korrekt sagt: bei jedem kleinen Infekt und jeder laufenden Nase hat man als Elternteil Angst. “Nur nicht Polio, nur nicht Polio…” Vor der Impfung gab es weltweit schätzungsweise Eintausend durch Polio verursachte Paralysen – und zwar jeden Tag. Die meisten Betroffenen waren Kinder.

Die Erlösung

Es gibt es eine einfache Erklärung, warum wir diesen Schrecken heute beim Wort Polio nicht mehr spüren. Impfungen. 1955 wurde der erste, von Jonas Salk entwickelte Impfstoff in Umlauf gebracht. Es handelte sich dabei um einen Totimpfstoff, bei dem Polioviren mit Formalin inaktiviert und dann mit einer Spritze in einen Muskel injiziert werden. Dieser Impfstoff ist enorm sicher und wird auch heute noch in allen Ländern, in denen Polio nicht mehr vorkommt, verwendet. Auch in Deutschland sollte jedes Kind nach Empfehlung der ständigen Impfkommission (STIKO) bis zum ersten Geburtstag mit insgesamt vier Dosen geimpft werden.

Etwas später, 1961, kam auch die orale Polioimpfung hinzu, die viele noch als “Schluckimpfung” kennen und von Albert Sabin entwickelt wurde. Hierbei handelt es sich um einen Lebendimpfstoff, also eine abgeschwächte Form des Poliovirus, das ebenso im Darm repliziert, aber keine neurologischen Schäden mehr verursacht. Zur Bekämpfung von Polio hat diese Impfung nun einige Vorteile. Der wichtigste ist, dass durch das sehr ähnliche Verhalten des Impfvirus eine deutlich bessere Schleimhautimmunität induziert wird, als durch den Totimpfstoff. Schließlich vermehrt sich das Impfvirus in der Darmschleimhaut, also wird auch eine Immunantwort gebildet, die das Virus dort eliminiert. Dadurch verbreiten Impflinge nach der oralen Vakzine das Virus deutlich seltener – auf Bevölkerungsebene kann so eine Epidemie viel effizienter eingedämmt werden. Zusätzlich ist die Verabreichung einer oralen Impfung in ärmeren Regionen oft deutlich einfacher, da keine sterilen Nadeln benötigt werden.

Es gibt jedoch einen deutlichen Nachteil der oralen Polioimpfung gegenüber der inaktivierten. Wohingegen schwere Nebenwirkungen bei der inaktivierten Vakzine eigentlich nie auftreten, kommt es bei der Schluckimpfung sehr selten zu einer Mutation des Impfvirus, das dann wieder Lähmungen verursachen kann. Das funktioniert so: auch das Impfvirus wird über den Stuhl ausgeschieden und kann dann andere Menschen infizieren. So zirkuliert das Impfvirus unbemerkt in einer Bevölkerung (und führt in dieser auch zu einem Impfschutz – eine positive Nebenwirkung der Impfung). In dieser Zeit häufen sich jedoch – wie bei allen Viren – auch Mutationen im Virusgenom an, die in seltenen Fällen dazu führen, dass es seine alte Virulenz zurückerlangt. Wie man aus diesem Pathomechanismus ableiten kann, entstehen solche Impf-induzierten Poliofälle, wie sie genannt werden, insbesondere in Regionen, in denen die Hygiene schlecht und die Impfquote niedrig ist. Denn nur unter diesen Bedingungen haben die Impfviren die Möglichkeit, lange genug zu zirkulieren, um genügend Mutationen zu akkumulieren. Das individuelle Risiko ist zwar gering (statistisch kommt es erst nach ca. 1 Millionen Impfungen zu einem einzigen Fall Impf-induzierter Polio), wenn wir über die Ausrottung von Polio auf Bevölkerungsebene sprechen, ist das aber relevant. Das ist auch der Grund, wieso in allen Ländern, in denen es keine Poliofälle mehr gibt, rasch auf die inaktivierten Impfstoffe gewechselt wird. So vermeidet man auch das sehr geringe Risiko einer Impf-induzierten Polio.

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die Impfstoffentwicklung damals viel weniger reguliert und formalisiert war wie heute. Auch von Salks Impfung wurden mehrere Impfkandidaten getestet, auch an Kindern, und einige dieser Kinder wurden dadurch mit Polio infiziert und starben, da die Viren nicht richtig inaktiviert wurden. Die enorme Errungenschaft, die diese Impfungen darstellen, wurden auf dem Boden toter und gelähmter Kinder gewonnen. Das sollte man nicht vergessen, wenn man bedenkt, dass nur durch dieses Opfer heute kein Kind mehr an Polio erkranken muss.

Eine Welt ohne Polio?

Seit den Epidemien Mitte der 50er-Jahre, die in Nordamerika und Europa gewütet haben, hat sich die weltweite Poliosituation deutlich geändert. Durch weitverbreiteten Einsatz der Impfstoffe und das Bestreben der WHO konnte Polio fast komplett eradiziert werden. Polioviren kommen in drei Serotypen vor, und zwei davon wurden bereits eradiziert. Nur Serotyp 1 verursacht noch Fälle von Wildtyp-Polio (im Gegensatz zur Impf-induzierten Polio, von der es alle drei Serotypen noch gibt – denn auch in der Schluckimpfung sind oft noch alle drei Serotypen enthalten). Erst vor zwei Jahren konnte Polio auch endlich aus Afrika eliminiert werden. Damit verbleiben derzeit nur noch zwei Länder, in denen Polio endemisch ist – Afghanistan und Pakistan. Hier ist es aus politischen und religiösen Gründen besonders schwierig, die gesamte Bevölkerung mit Impfangeboten zu erreichen – u.a. deswegen, da Impfärzte gezielt von den Taliban getötet werden.

Wir sind also seit vielen Jahren knapp davor, Polio komplett von der Weltkarte zu fegen. In Pakistan und Afghanistan als letzter Bastion hält sich das Virus aber hartnäckig. Ganz wichtig ist es jetzt, auf keinen Fall in irgendeiner Region der Welt die hohe Impfquote zu verlieren. Denn es braucht nur einen einzigen Infektiösen, der in eine ungeschützte Population einreist, um eine neue Polioepidemie zu verursachen. Das kann auch in Deutschland passieren, wenn wir nicht achtsam sind. Wenn wir jedoch durchhalten, dann kann die WHO noch in diesem Jahrzehnt Polio für ausgerottet erklären – und wir können einen Impfstoff aus der Grundimmunisierung streichen, da wir ihn dann nie wieder benötigen werden.

Nachtrag

Leider hat sich diese Befürchtung im Herbst 2022 bestätigt – zum Glück nur in kleinem Maßstab. In New York, London und Israel wurden abgeschwächte Polioviren, die aus der oralen Schluckimpfung hervorgingen (s. oben) im Abwasser nachgewiesen. Eine (ungeimpfte) Person in New York wurde tatsächlich auch paralysiert. Zum Glück blieb der Ausbruch auf diese Städte begrenzt. Wenn unsere Impfraten weiter abfallen, dass werden solche Fälle öfters auftreten – irgendwann auch mit dem Wildtyp-Virus.

Quellen:

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