Vipeholmexperimenten

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Zucker verursacht Karies1. Das ist heute Allgemeinwissen, das von niemandem angezweifelt wird. Es gab jedoch eine Zeit, in der dieser Zusammenhang unklar war. Eine Zeit, in der jeder Karies hatte. Tiefe Löcher in meist mehreren Zähnen, schon vom frühen Kindesalter an. Und seit dieser Zeit sind noch keine hundert Jahre vergangen. Um der Ursache auf die Spur zu gehen, wurde 1945 im Vipeholm-Krankenhaus in Schweden ein heute sehr fragwürdiges Experiment begonnen, das als Vipeholmexperimenten (“das Vipeholm-Experiment”) bekannt wurde. Fragwürdig deshalb, weil wir zwar heute alle noch von diesen Erkenntnissen profitieren, das Experiment jedoch an etwa eintausend geistig behinderten Menschen durchgeführt wurde – ohne deren Einwilligung.

Was ist Karies?

Zunächst müssen wir betrachten, was Karies eigentlich ist. Karies ist die Zerstörung der Zähne durch Bakterien, die auf ihrer Oberfläche in sog. Biofilmen wachsen. Karies ist immer noch eine enorm häufige Erkrankung (vielleicht sogar DIE häufigste Erkrankung des Menschen), wobei es schwierig ist, genau Zahlen zu finden. Man kann aber davon ausgehen, dass nur ein Bruchteil aller Menschen in ihrem Leben nie mit Karies zu tun haben – auch in den Industrienationen! Und Karies ist mitnichten harmlos. Neben dem visuellen Aspekt, unter dem viele Patienten enorm leiden, kann Karies enorm schmerzhaft sein, und sollte die Karies bis in die Zahnhöhle vorbringen, kann es sogar zu Sepsis und zum Tod kommen. Heute lassen sich solche schweren Verläufe antibiotisch meist gut kontrollieren, in der präantibiotischen Ära war ein solcher Zahn durchaus eine häufige Todesursache.

Die beste Prävention gegen Karies ist das regelmäßige Zähneputzen mit fluoridhaltiger Zahnpasta. Warum das so ist, versteht man, wenn man sich den Aufbau des Zahnschmelzes anschaut, aus dem die äußerste Schicht des Zahns besteht, und der die härteste Substanz des menschlichen Körpers darstellt. Er besteht (wie Knochen übrigens auch) aus einer fasrigen Komponente, die von Proteinfäden (Kollagen) gebildet wird, und einer Mineralkomponente, also einem Salz, das diese Fasern umgibt. Der Aufbau wird daher gerne mit Stahlbeton verglichen. Teile dieser Mineralkomponente sind Fluorid-Ionen (F), welche dem Zahnschmelz seine besondere Festigkeit verleiht (und welche ihn vom Aufbau der Knochen unterscheiden). Wenn der Zahnschmelz angegriffen wird, dann wird zunächst diese Mineralkomponente durch von den Bakterien produzierten Säuren angegriffen und aufgelöst. Danach liegt das Kollagen frei, und kann ebenfalls bakteriell abgebaut werden. Der Mineralteil kann jedoch – wenn der Einfluss der Bakterien eliminiert wird, z.B. durch Zähneputzen – auch wieder regenerieren (solange der Kollagenteil noch vorhanden ist). Alle dafür benötigten Ionen, wie Natrium (Na+) und Phosphat (PO43-), finden sich im Speichel. Nicht jedoch das Fluorid, das daher von extern ersetzt werden muss; entweder in der Zahnpasta, Fluorid im Trinkwasser oder fluoridiertes Kochsalz.

Nicht jedes Bakterium kann jedoch den Zahnschmelz auflösen. Es sind nur einige bestimmte (“kariogene”) Bakterienarten. Und ein weiterer, essentieller Bestandteil der Karies ist die zuckerhaltige Ernährung, ohne die es keine Karies gibt (denn sie werden von entsprechenden Bakterien zu den angesprochenen Säuren verstoffwechselt). Was uns direkt zu unserem Hauptthema bringt.

Die Ausgangslage vor Vipeholm

All das hat man um 1940 herum, also bevor das Vipeholm-Experiment durchgeführt wurde, noch gar nicht gewusst. Man wusste nur, dass eigentlich die gesamte schwedische Bevölkerung an faulenden Zähnen litt. Besonders gut ließ sich das bei den Wehrpflichtigen untersuchen, bei denen fast 100 % an starker Karies litten. Jahre zuvor wurde unter der sozialdemokratischen Regierung die zahnärztliche Behandlung staatlich gefördert, um sie auch auf dem Land und für ärmere Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Durch die enorme Prävalenz der Erkrankung explodierten die Behandlungskosten jedoch regelrecht. Daher musste eine Möglichkeit der Prävention her.

Zucker wurde auch schon damals als Ursache vermutet. Ein Beweis jedoch fehlte; es fanden sich nur Korrelationen, beispielsweise aus Studien in den USA. Zusätzlich wurde während der Zuckerrationierung im zweiten Weltkrieg im neutralen Schweden eine verringerte Kariesbelastung beobachtet. Es sollte also eine Studie geplant werden, die zwei Fragen beantworten sollte: Wird Karies durch Zuckerkonsum verursacht? Und wie kann man Karies vorbeugen?

Vipeholmexperimenten

Der schwedische Reichstag entschloss sich, eine solche Studie aus Steuermitteln zu finanzieren. Als Ort der Studie wurde Vipeholm ausgewählt, ein Krankenhaus in Lund, in dem geistig behinderte Menschen ihr Leben lang betreut, bzw. treffender formuliert weggesperrt wurden, wie das zu damaliger Zeit leider bei (schwerer) geistiger Behinderung üblich war. Es fanden sich etwa 1000 Patienten, von denen viele gefüttert werden mussten, deren Ernährung man kontrollieren konnte und die für das Experiment für lange Zeit zur Verfügung standen. Früher wurden solche Versuche oft in Waisenhäusern oder Gefängnissen durchgeführt, wo die mögliche Beobachtungszeit jedoch nur begrenzt war. Wissenschaftlich gesehen waren die Bewohner Vipeholms also ein exzellentes Studienkollektiv. Ob diese jedoch an einer solchen Studie teilnehmen möchten hat sie niemand gefragt, und es wurde auch keine Einwilligung ihrer Verwandten eingeholt. Im Gegenteil waren zu dieser Zeit der Irrglaube an Ideen wie Rassenhygiene und Sozialdarwinismus weit verbreitet, und man sah das Experiment als Möglichkeit an, dass diese sonst für die Gesellschaft so nutzlosen Menschen nun endlich eine Gegenleistung erbringen konnten.

Über den ganzen Themenkomplex der Rassenlehre und Eugenik könnte man ganze Bibliotheken schreiben. An dieser Stelle sei nur kurz auf zwei Sachen hingewiesen. Erstens: Sozialdarwinismus hat nichts mit “echtem” Darwinismus, also Evolution durch natürliche Selektion zu tun, sondern ist eine fehlgeleitete (und widerwärtige) Anwendung dieses Prinzips auf menschliche Gesellschaften, die eindeutig in das Reich der Pseudowissenschaften gehört. Ich habe den Begriff trotzdem verwendet, da ich für das zugrundeliegende Konstrukt keinen besseren Begriff kenne. Zweitens: Zumindest als Einstieg in das Thema kann ich Stephen J. Goulds “The Mismeasure of Man” und Adam Rutherfords “How to Argue with a Racist” empfehlen.

Das Experiment begann 1945. Zunächst sollte untersucht werden, ob Karies nicht eine Mangelerkrankung ist. Dazu wurden alle Patienten zunächst mit einer ausgewogenen Grundkost versorgt. Dann bekamen unterschiedliche Gruppen zusätzlich diverse Vitamine oder Mineralstoffe (darunter auch Fluorid) verabreicht. Nicht alle Patienten waren jedoch willig, u.a. die zahnärztlichen Untersuchungen zu erdulden, und es nahmen von den 1000 Personen in Vipeholm nur etwa 660 an diesem ersten Versuch teil. Er dauerte zwei Jahre an, und endete mit einem negativem Ergebnis: Es fand sich kein Unterschied im Zahnstatus der behandelten Probanden und der Kontrollgruppe. Auch Fluor hat (in diesem Experiment) keinen Unterschied gemacht.

Nach diesem ersten gescheiterten Versuch sollte eine andere Hypothese getestet werden: Ist Zucker ursächlich für die Entstehung von Karies? Für diesen Versuch haben die Wissenschaftler mit der Süßwarenindustrie zusammengearbeitet, die tonnenweise Material für die kommenden Experimente zur Verfügung gestellt hat. Diese Experimente wurden jedoch ohne die Einbeziehung des schwedischen Reichstag geplant und durchgeführt, neben dem Versuchsmaterial wurden auch die Experimente nun durch die Süßigkeitenindustrie finanziert, und nicht mehr aus Steuermitteln. Der große Unterschied zum Mangelernährungsversuch der Jahre zuvor: Jetzt wollte man aktiv versuchen, Karies zu verursachen, statt nach einem Weg zu suchen, ihr vorzubeugen. Die Versuchsgruppe bekam Zucker in unterschiedlichen Formen: Zuckerwasser, Schokolade, Saccharose über das Essen gestreut, oder auch besonders klebrige Toffees, die von der Industrie extra für dieses Experiment entwickelt wurden, und die man besonders lange kauen musste, um so die Kontaktzeit des Zuckers mit den Zähne möglichst lang zu halten. Für viele Patienten waren diese Süßigkeiten eine willkommene Abwechslung ihres äußerst tristen Alltags; die Patienten, denen ihre Süßigkeiten jedoch nicht geschmeckt haben, wurde oft dazu gezwungen, sie zu essen. Mitunter waren sie aber auch sehr kreativ darin, sie entweder zu verstecken oder mit anderen Patienten zu tauschen (was die wissenschaftliche Qualität natürlich deutlich mindert, wenn die Kontrollgruppe plötzlich auch Süßigkeiten bekommt).

Nach weiteren zwei Jahren war das Ergebnis klar: die Zuckergruppen hatten deutlich mehr Löcher in den Zähnen, durchschnittlich waren es zehn (!) neue Löcher. Etwa 60 der Teilnehmer hatten nach dem Versuchsende gar keine (nennenswerten) Zähne mehr übrig. Erst nach dem Experiment wurden die Patienten zahnärztlich behandelt. Die Schmerzen, die manche Patienten durchleiden mussten, sind für mich kaum vorstellbar. Es mussten etwa 2000 Zähne gezogen und etwa 3000 Zähne behandelt werden.

Dennoch dauert es noch weitere drei Jahre, bis die Ergebnisse veröffentlicht wurden. Hintergrund ist die Einwirkung der Industrie, zunächst noch Versuche durchzuführen, wie sich denn eine “normale” Menge an Süßigkeiten auf die Zahngesundheit auswirkt, verglichen mit den zugegebenermaßen durchaus extrem hohen Mengen zuvor. Trotzdem wurden die Ergebnisse, wenn auch verspätet, gegen den Willen der Industrie veröffentlicht. Damit einher ging die Empfehlung, zur Kariesprävention die Steuer auf Süßwaren deutlich zu erhöhen. Politisch ließ sich diese Forderung jedoch nicht umsetzen. Die Süßwarenindustrie beschäftigte viel zu viele Menschen und machte einen zu großen Anteil der schwedischen Wirtschaftsleistung aus.

Beurteilung & Conclusio

Was ist nun vom Vipeholm-Experiment zu halten? Wissenschaftlich gesehen war die Studie enorm gut durchgeführt, die Ergebnisse sehr valide, heute noch relevant, und für die damalige Zeit definitiv außergewöhnlich. Mit der Vipeholm-Studie war Schweden plötzlich ein Teil der internationalen Medizinwissenschafts-Community, und Zahnärzte nicht nur Handwerker, sondern auch Wissenschaftler.

Ethisch hingegen ist eine Beurteilung schwierig. Nach heutigen Standards wäre diese Studie glücklicherweise niemals durchgeführt worden, denn eine zwingende Voraussetzung ist die informierte Einwilligung (engl. informed consent), die bei den unfreiwilligen Teilnehmer in Vipeholm natürlich nicht gegeben war – nicht einmal die Angehörigen wurden informiert, geschweige denn um Erlaubnis gefragt. Eine zweiter Aspekt ist die Tatsache, dass die Patienten erst nach der zweijährigen Studie eine zahnärztliche Behandlung erhielten – dann, wenn sie schon lange Zeit Schmerzen erleiden mussten und viele Zähne nicht mehr zu retten waren. Für einige Patienten wurden zwar Ersatzgebisse angefertigt, den kognitiv mitunter stark beeinträchtigten Patienten jedoch den Umgang mit diesen zu vermitteln gestaltete sich schwierig. Darüber hinaus wurden sie (auch schon vor Beginn der Experimente) geschlagen und zur Studienteilnahme gezwungen. Man muss jedoch auch bedenken, dass alleine schon die Grundkost, die alle Patienten als Teil des Experiments bekamen, eine deutliche Verbesserung gegenüber ihrer üblichen Verpflegung darstellte. Vielen haben die getesteten Süßigkeiten auch definitiv gefallen. Dass sie, wenn auch erst nach Abschluss der Studie, eine zahnärztliche Behandlung erhielten war nicht selbstverständlich – große Teile der schwedischen Bevölkerung konnten sich eine solche gar nicht leisten. Und zu guter Letzt ist es immer schwierig, eine vergangene Zeit mit den ethischen Standards der Gegenwart zu beurteilen. Leider waren solche Zustände wie in Vipeholm damals durchaus normal. Genauso werden wir in 50 Jahren auf die heutige Zeit blicken und viele unserer heutigen Gewohnheiten als barbarisch und verwerflich beurteilen.

Im Zuge von Vipeholm und anderen Erkenntnissen der Kariesforschung, etwa über den Nutzen von Fluorid, konnte die Karieslast in den folgenden Jahren deutlich gesenkt werden. Neben Zähneputzen, fluoridiertem Trinkwasser und insb. fluoridierter Zahnpasta wurden – zumindest in Schweden – auch die “Samstagssüßigkeiten” (schw. lördagsgodis) eingeführt, aus der Erkenntnis heraus, dass insb. die Frequenz des Zuckerkonsums zu Karies führt, weniger die Menge – und Kinder daher besonders samstags Süßes bekamen. Vipeholm ist trotzdem kein Name, der uns in guter Erinnerung bleiben wird – auch wenn wir heute noch alle vom unfreiwilligen Opfer seiner Bewohner profitieren.


1: es heißt die Karies

Quellen:

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