Buchempfehlung: Immune

Veröffentlicht von

Eigentlich hatte ich selbst vor, ausführlicher über Teile des Immunsystem zu schreiben. Über das Immunsystem scheint insgesamt wenig Wissen vorzuliegen. Selbst in meinem derzeitigen Studium spielt das Immunsystem immer nur eine Nebenrolle. Und das ist enorm schade, denn neben dem Nervensystem ist das Immunsystem das komplexeste und faszinierendste System des menschlichen Körpers, und damit vermutlich auch der gesamten Biologie. Über dieses Thema hat Philipp Dettmer nun ein Buch geschrieben, das den Titel Immune – A Journey into the Mysterious System that Keeps You Alive trägt (frei übersetzt: “Immun: Eine Reise in der geheimnisvolle System, das dich am Leben erhält”). Leider erkennt man hier schon das auch wirklich einzige Problem mit diesem Buch: Es ist derzeit nur auf Englisch verfügbar. Da Dettmer aber selbst Deutscher ist, und das Buch wirklich hervorragend, würde es mich wundern, wenn nicht auch bald eine deutsche Ausgabe erscheinen würde. Wer also des Englischen nicht mächtig ist, der kann noch ein bisschen Geduld haben.

Nachtrag: Es gibt mittlerweile auch eine deutsche Übersetzung.

Wer ist Philipp Dettmer?

Der ein oder andere wird Philipp Dettmer schon kennen. Er ist nämlich besser bekannt als der Gründer von Kurzgesagt, einem Youtube-Kanal, der mitunter sehr komplexe Sachverhalte in wunderschön animierten, 10-minütigen Videos erklärt. Den gleichen Kanal gibt es auch in einer deutschen Version. Dabei schafft es Kurzgesagt, den Stand der Wissenschaft wahrheitsgemäß abzubilden, und das ohne zu stark zu vereinfachen – was ein ziemlicher Balanceakt ist! Der aber gelingt ihnen wirklich hervorragend – in den Videos zu den Themen, mit denen ich mich selbst etwas auskenne, habe ich bis jetzt keine wirklichen Fehler entdeckt. Auch kontroverse Themen, beispielsweise Gentechnik, Kernenergie oder Fleischkonsum werden sehr ausgewogen dargestellt. Trotzdem wird klar Stellung bezogen, wenn die Fakten eben eindeutig sind (z.B. bei der Gentechnik). Die persönliche Meinung der Autoren wird dabei aber immer klar von den Fakten abgegrenzt. Alles in allem ist Kurzgesagt also ein Paradebeispiel dafür, wie gute Wissenschaftskommunikation aussehen sollte. Als Beispiel verlinke ich hier eines der Videos zur Kernenergie, das glaube ich gut demonstriert, was ich meine:

Wer könnte also besser geeignet sein, das enorm komplexe Thema Immunsystem anzugehen, als Philipp Dettmer?

Das Buch

Letztlich hat man am Ende des Buches einen sehr guten Überblick, welche Teile des Immunsystems es gibt, welche Funktionen sie haben und wie sie miteinander interagieren. Es wird erklärt, wie das Immunsystem mit Bakterien, Viren, Parasiten und Krebs fertig wird. Der Unterschied zwischen dem angeborenen Immunsystem und dem adaptiven Immunsystem wird erklärt. Man versteht auch, wie das Immunsystem das scheinbar unmögliche vollbringt: Gegen jeden denkbaren Krankheitserreger eine hochspezifische Antwort zu formulieren! Das ist eine unglaubliche Leistung. Ein zweite Fakt klingt genauso unglaubwürdig: Das Immunsystem lernt – in der “Mordakademie des Thymus”, wie Dettmer das Kapitel betitelt – den eigenen Körper zu erkennen, um sich so gegen alles richten zu können, was nicht “selbst” ist. Aber wie kann das Immunsystem ein körpereigenes Protein von einem fremden unterscheiden? Wir erinnern uns: Jedes Protein ist eine Kette aus nur 20 verschiedenen Aminosäuren. Wie kann ein bakterielles Protein von einem menschlichen unterschieden werden? Oder gar das Protein eines anderen Menschen von einem körpereigenen, beispielsweise bei einer Organtransplantation? Diese komplexen Fragen werden alle sehr anschaulich erklärt. Auf drei Aspekte des Buchs muss ich aber noch hinweisen.

  1. Das Buch kommt ohne Fachbegriffe aus. Immunologie – wie Molekularbiologie im Allgemeinen – ist geprägt von Tausenden Fachbegriffen und Abkürzungen, die oft historisch begründet sind und gar nichts mit der eigentlichen Funktion zu tun haben. Ein wichtiger Botenstoff des Immunsystems beispielsweise, mit dem Immunzellen kommunizieren, heißt Tumornekrosefaktor alpha. Mit Tumoren und Nekrose hat dieser Botenstoff im Körper gar nichts zu tun, aber in Laborexperimenten kann man diesen Effekt nachweisen – und so wurde der Botenstoff identifiziert und daher auch benannt. Der Name hat sich gehalten, man kürzt ihn aber immer als TNFα ab. Ein anderes Beispiel sind die Toll-like-Rezeptoren, die tatsächlich so heißen, weil die Forscherin, als sie das Experiment gesehen hat, das ihre Existenz zeigte, gesagt hat “Toll!”. Kein Witz. Die kürzt man daher als TLRs ab. Solche Buchstabengemische sind in der Immunologie die Regel. Dettmer regt sich in seinem Buch öfters über die nichtssagenden Bezeichnungen von Molekülen und Genen auf – was meistens recht amüsant ist. Er selbst verzichtet aber auf alle Begriffe, die nicht wirklich ganz essentiell sind, was das Buch sehr angenehm zu lesen macht – besonders für Laien. Allein dafür, dass er es schafft, dieses Gebiet anschaulich mit Metaphern zu erklären, statt mit trockenen Abkürzungen, hat er eigentlich schon einen Preis verdient. Was mich zum nächsten Punkt führt.
  2. Es ist wunderschön anschaulich erklärt. Wirklich beeindruckend fand ich, wie lebhaft Zellen, Gewebe und Infektionen dargestellt werden. Die Größenverhältnisse werden anschaulich gemacht: Wenn eine normale Körperzelle so groß wie ein Mensch ist, dann haben Bakterien die Größe von Kaninchen und ein Makrophage ist so groß wie ein Nashorn. Unsere Haut ist eine lebensfeindliche Wüste, die für Pathogene ein schier unüberwindbares Hindernis darstellt, und die Lunge ein Sumpf. Der Thymus ist eine Mordakademie und um Antikörper gegen jeden erdenklichen Erreger zu produzieren bedient sich die Zelle eines Mechanismus, der sich gut durch ein Drei-Gänge-Menü veranschaulichen lässt. Beim Lesen hat man wirklich beeindruckende Bilder im Kopf, denn man sieht den Körper aus dem Blickwinkel einer Zelle oder eines Bakteriums. Dazu kommen die zahlreichen Abbildungen, die im ikonischen Kurzgesagt-Style gestaltet sind. Neben dem Inhalt bekommt das Immunsystem so auch eine gewissen Ästhetik.
  3. Es wird die gesamte Immunologie abgedeckt. Das Buch ist wirklich ein Rundumschlag. Man lernt, wie das Immunsystem Bakterien, Viren, Parasiten und Krebszellen bekämpft, wie Allergien und Autoimmunerkrankungen entstehen, und was eigentlich HIV und Impfungen mit dem Immunsystem machen. Und trotzdem ist es ein recht überschaubares Buch von ca. 300 Seiten, die übrigens in 45 kleine Kapitel eingeteilt sind, so dass man sich auch ganz langsam durch das Buch arbeiten kann – Kapitel für Kapitel, die immer nur wenige Seiten lang sind.

Conclusio

Das Buch schafft es, eines der kompliziertesten Themen der Biologie anschaulich und ohne Fachbegriffe, d.h. laienverständlich zu erklären, ohne dabei so stark zu vereinfach, dass es falsch wäre. Man bekommt einen soliden Überblick über das Immunsystem, der jedem Mensch sehr gut tun würde. Schließlich könnte keiner von uns ohne sein Immunsystem überleben. Bei fast allen Krankheiten spielt das Immunsystem eine Rolle. Dettmer hat hier als wirklich eine Meisterleistung vollbracht, und das obwohl er selbst kein Immunologe ist. Oder vielleicht genau deswegen? Sein Buch kann ich auf jeden Fall jedem empfehlen, der etwas hinter die Kulissen des Immunsystems blicken will.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert