Medizinische Missverständnisse: die “Erkältung”

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Kaum eine Diskussion führe ich im Freundes- und Bekanntenkreis so häufig, wie die darüber, ob man mit nassen Haaren das Haus verlassen sollte. “Aber dann holt man sich doch sonst eine Erkältung!” Das Missverständnis kann ich gut verstehen, schließlich ist der Begriff ziemlich unglücklich gewählt. Aber wenn man die Leute daran erinnert – denn die meisten wissen es eigentlich – dass es sich bei einer Erkältung um eine Virusinfektion handelt, dann geht die Debatte erst los. Denn jeder kann mindestens eine Anekdote zum Besten geben, wieso Kälte sehr wohl auch eine Erkältung verursacht. Entweder hat man sich mal lange in einem klimatisierten Raum aufgehalten, und dann eine Woche lang einen Schnupfen. Oder man hatte wirklich keine Zeit sich die Haare zu trocknen. Und einen Tag später war man krank! Und überhaupt, wieso ist man sonst gerade immer im Winter erkältet, wenn es draußen kalt ist? Schauen wir uns doch die wissenschaftlichen Daten dazu an und finden heraus, was an dieser Behauptung eigentlich dran ist.

Begrifflichkeiten

Da die Begrifflichkeiten immer wieder durcheinander geworfen werden (auch von Medizinern selber), sollten wir sie eingangs klarstellen. Was man umgangssprachlich als Erkältung bezeichnet, wird treffender grippaler Infekt genannt. Davon abzugrenzen sind die Begriffe Schnupfen und Grippe. Schnupfen (akute Rhinitis) ist erstmal nur ein mögliches Symptom eines grippalen Infekts, neben Halsschmerzen, leichtem bis mittelmäßigem Fieber, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen und Husten. Schnupfen selber ist also keine Krankheit, auch wenn der Begriff oft so verwendet wird. Eine Grippe (Influenza) hingegen ist eine schwere Infektion der Atemwege einschließlich der Lunge durch Influenzaviren, bei der auch starke Allgemeinsymptome auftreten (bei einer echten Grippe geht es einem wirklich hundselend, mit hohem Fieber, starken Glieder- und Kopfschmerzen, etc.). Der grippale Infekt hingegen kann zwar auch durch Influenzaviren bedingt sein, aber hier finden sich deutlich häufiger andere sog. respiratorische Viren als Ursache.

Die Liste dieser möglichen respiratorischen Viren ist lang. Am häufigsten und am bekanntesten sind die Rhinoviren, die mindestens die Hälfte aller grippalen Infekte verursachen. Daneben finden sich noch eine ganze Reihe anderer Viren: Metapneumoviren, Coronaviren (auch andere als SARS-CoV 1 oder 2), Parainfluenzaviren, Parechoviren, Adenoviren, Enteroviren (und sicherlich noch ein paar, die wir noch gar nicht entdeckt und beschrieben haben). Insbesondere die Enteroviren sind dafür bekannt, auch im Sommer grippale Infekte zu verursachen, häufig bei Kindern. Im Gegensatz zu ihrem Namen verursachen sie jedoch keinen Durchfall.

Allein ausgehend von diesen grundlegenden Fakten sollte klar sein, dass ohne äußeren Kontakt mit einem Virus – etwa in der Straßenbahn oder einer infizierten Freundin – gar kein grippaler Infekt entstehen kann, ganz egal wie kalt uns ist. Denn im Gegensatz zu Bakterien – mit denen wir so intensiv besiedelt sind, dass sich in und auf uns mehr Bakterienzellen finden als alle körpereigenen Zellen zusammen – gibt es keine solche Besiedlung mit Viren. Bakterien sind für die normale Funktion des Körpers an verschiedenen Stellen wichtig (“physiologisch”), z.B. sorgt ein Bakterium in der Vagina, Lactobacillus vaginalis oder auch Döderlein-Bakterien genannt, dort für einen sauren pH-Wert und verhindert so die Besiedelung mit Pilzen (und anderen, pathogenen Bakterien). Viren mit solchen physiologischen Funktionen gibt es nicht. Wenn man im Körper ein Virus nachweist, dann hat das immer auch einen potentiellen Krankheitswert (manche Infektionen, wie z.B. auch mit den genannten respiratorischen Viren, können jedoch asymptomatisch bleiben).

Ist es daher prinzipiell ausgeschlossen, dass eine erniedrigte Temperatur mit der Ausbildung einer “Erkältung” im Zusammenhang steht? Nun, nicht ganz. Eine Hypothese, wie es diesen Zusammenhang doch geben könnte, wird in einem Übersichtsartikel von Ronald Eccles aus dem Jahr 2002 vertreten. Er argumentiert, dass Kälte dazu führen könnte, dass eine sonst asymptomatische Infektion mit respiratorischen Viren so in eine symptomatische Infektion übergehen könnte. Bevor wir uns das Paper etwas genauer anschauen, möchte ich kurz erläutern, wie man generell bei solchen Behauptungen vorgehen sollte.

Plausibilität und Empirie

Es gibt zwei Aspekte, die man bei medizinischen Fragestellungen nach Ursache und Wirkung beachten muss. Der eine Aspekt nennt sich biologische Plausibilität (oder in der Sprache von Bayes auch A priori-Wahrscheinlichkeit genannt – ein wichtiges Konzept, dass ich aber an anderer Stelle mal ausführlich erkläre), und meint einfach nur, ob man sich mit dem aktuellen Wissen über Biologie und Medizin einen (molekularen) Mechanismus vorstellen kann, wie diese Ursache-Wirkungs-Beziehung zustande kommen könnte. In unserem Fall also eine (hypothetische) Kausalkette, die das Absinken der Körpertemperatur z.B. am Kopf (nasse Haare) oder an den Füßen mit der Entstehung eines grippalen Infekts logisch verknüpft.

Der zweite Aspekt ist die empirische Untersuchung des Phänomens. Klingt erstmal kompliziert, bedeutet aber nur, dass man sich die Fragestellung schlicht in einem Experiment anschaut. In unserem Fall würde das bedeuten, dass man einfach eine Gruppe an Versuchspersonen gegenüber Kälte exponiert (z.B. durch ein kaltes Fußbad für 30 Minuten), und sich dann anschaut, ob sie in den Tagen danach mehr grippale Infekte entwickeln, als eine Gruppe an Kontrollpersonen, die ihre Füße in einem lauwarmen Wasserbad hatten.

Beides Aspekte sind jedoch nicht gleich wichtig. Die empirische Untersuchung ist der eigentlich entscheidende Punkt. Biologische Plausibilität ist eher1 so zu verstehen, dass es nur irgendwie möglich sein muss, dass die untersuchte Beziehung stimmt, d.h. dass keine bekannten Naturgesetze gebrochen werden. Wenn jemand z.B. behauptet, eine Lösung eines Stoffes, die so weit verdünnt wurde, dass sie gar kein Molekül des Wirkstoffs mehr enthält, könnte eine Krankheit behandeln, dann wäre das nur dann möglich, wenn wir Physik, Chemie, Biologie und Pharmakologie auf einer fundamentalen Ebene nicht verstanden hätten. In diesem Fall ist die biologische Plausibilität also ziemlich genau Null, und eine empirische Überprüfung gar nicht mehr nötig. Biologische Plausibilität ist also eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung (um mich der Sprache der Mathematik zu bedienen). Sie kann aber mitunter sehr nützlich sein, um schon mal vorzusortieren, ob eine Aussage denn überhaupt stimmen kann. Wer nämlich meint, mit nassen Haaren das Haus zu verlassen würde einen grippalen Infekt verursachen, ohne dabei zu erklären wie das denn mit einem respiratorischen Virus zusammenhängt (ohne das es keinen grippalen Infekt geben kann), dessen Behauptung können wir ohne weitere Experimente schon also unsinnig verwerfen.

Das Experiment hingegen, also die empirische Untersuchung, lässt letztlich den Schluss zu ob eine Aussage stimmt oder nicht (oder zumindest wie wahrscheinlich sie ist). Wenn wir über Therapien von Krankheiten reden, dann ist dieses Experiment die klinische Studie, am besten in Form der randomisierten Doppelblindstudie. Damit testen wir schlicht, ob etwas wirkt, ganz egal was wir für Vorstellungen darüber haben wie es wirkt (solange eine Wirkung aus biologischen Gründen zumindest mal nicht unmöglich ist). Beispiel Paracetamol. Wirklich genau verstanden, wie Paracetamol auf einer molekularen und zellulären Ebene wirkt haben wir zwar nicht, wissen aber aus klinischen Studien, dass es wirkt (nämlich fiebersenkend und auch schwach schmerzstillend). Auch den umgekehrten Fall gibt es. In der Medikamentenentwicklung sieht man bei vielen Substanzen, deren Wirkmechanismen man in Zellen schon untersucht hat (d.h. deren Wirkung biologisch plausibel ist), dass sie in klinischen Studien gar keinen Effekt mehr zeigen. Biologische Plausibilität alleine reicht eben nicht aus, entscheidend ist die Empirie.

Der eigentliche Artikel

Wenden wir uns nun also dem Übersichtsartikel zu. Er bewegt sich eigentlich ausschließlich auf der Ebene biologischer Plausibilität. Dazu macht er mehrere Punkte.

  1. Neben den symptomatischen Fällen gibt es auch eine Reihe an asymptomatischen Infektionen. Nur für diese subklinisch infizierten Personen gilt die folgende Argumentation.
       
  2. Exposition gegenüber Kälte (z.B. einem kalten Fußbad oder am Rücken) kann zu einer Vasokonstriktion (Engstellung der Blutgefäße) in der Nasenschleimhaut führen, teilweise auch für mehrere Stunden nachdem die Kälteeinwirkung schon vorüber war.
       
  3. Diese Vasokonstriktion führt durch die schlechtere Blutversorgung zu einer niedrigeren Temperatur der Schleimhaut, wodurch sich die Viren besser vermehren können. Zusätzlich wird dadurch die Antwort des Immunsystems abgeschwächt. So kann eine subklinische (d.h. unbemerkte) Infektion in eine klinische (d.h. symptomatische) übergehen.

Zu Punkt 1 kann man sagen, dass man nicht abschließend sagen kann wie häufig solche asymptomatischen Infektionen sind, aber Werte zwischen 30 und 50% scheinen realistisch. Es ist aber nicht so, dass sich in der Bevölkerung viel mehr unbemerkte als bemerkte grippale Infekte finden. Punkt 2 kann auch zutreffen, aber Eccles’ Beschreibung einer “ausgeprägten Temperaturabnahme der Nasenschleimhaut” lässt sich mit dem einzigen von ihm zitierten Paper, das im Internet zu finden ist (Spiesman et Arnold 1937) nicht bestätigten. Da waren die Temperaturabnahmen deutlich geringer ausgeprägt, und lagen selten über 1 °C (Ich liebe das Internet übrigens dafür, dass man mit ein paar Mausklicks 80 Jahre alte Paper runterladen kann). Außerdem war diese Temperaturabnahme nur für den Zeitraum messbar, in dem auch Kälte appliziert wurde (hier meistens am Rücken). Woher er eine “mehrere Stunden” nachwirkende Reaktion hernimmt ist mir nicht klar. Die Reaktion der Nasenschleimhaut war also vermutlich nur ganz normale Thermoregulation, und ich bezweifle ob solche kurzen, minimalen Temperaturschwankungen wirklich irgendeine nennenswerte Auswirkung auf die Immunabwehr haben. Wobei Punkt 3 auch behandelt wäre.

Im Gegensatz zu dieser doch wenig überzeugenden Argumentation stehen empirische Daten, die er auch selber in seinem Artikel zitiert. In mehreren (wiederum sehr alten) Studien wurden Versuchspersonen gegenüber Kälte exponiert, und davor oder danach mit einem Rhinovirus inokuliert. Einen Effekt durch Kälte konnte keine der von ihm zitierten Studien zeigen, teilweise wurden jedoch auch nur sehr wenige Probanden untersucht. In einer Studie von 2005 hat Eccles selber untersucht, inwiefern ein kaltes Fußbad in den kommenden Tagen Erkältungssymptome verursacht. Meiner Meinung nach war diese Studie aber auch wenig aussagekräftig. Sie war nicht verblindet (was bei einem kalten Fußbad auch zugegebenermaßen schwer ist), hat nur die Symptome abgefragt ohne wirklich eine Virusinfektion nachzuweisen oder einen anderen objektiven Infektionsparameter zu messen, und zu guter Letzt war der Unterschied zwischen beiden Gruppen auch noch sehr klein (wenn auch statistisch signifikant). Eine überzeugende Studie sieht anders aus. Die Inhalation von Wasserdampf hilft übrigens nicht bei einer Erkältung, was auch gegen Eccles’ Hypothese spricht. Über Begrifflichkeiten wie Verblindung und statistische Signifikanz, und klinische Studien allgemein, werde ich in kommenden Artikeln noch ausführlicher reden. Sie hier zu besprechen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, der sowieso schon etwas lang geworden ist.

Der Vollständigkeit halber muss ich aber noch ein anderes Argument erwähnen, über das man häufiger stolpert und welches den “Kälte-Erkältung”-Zusammenhang belegen soll. Nämlich die Tatsache, dass sich Rhinoviren (wie schon erwähnt die häufigsten Erreger grippaler Infekte) am besten bei 33°C vermehren, also unter der Körperkerntemperatur. Das ist aber schlicht nur dadurch bedingt, dass Rhinoviren insb. in der Nase replizieren (und vermutlich weniger bis gar nicht im Rachen oder den tieferen Atemwegen, wobei sich hier nicht alle Experten einig sind), und die Temperatur des Epithels (d.h. der oberflächlichen Zellschicht, die von den Viren infiziert wird) nun mal niedriger ist als die Körperkerntemperatur. Denn wir atmen immer Luft ein, die kälter als unser Körper ist und so das Epithel abkühlt. Evolutiv hat sich das Virus also einfach nur an diese Temperatur angepasst, um sich optimal in der Nase vermehren zu können. Das mag auf den ersten Blick wie ein sinnvolles Argument erscheinen, aber dieser Sachverhalt ist natürlich weitgehend unabhängig davon, ob uns “kalt” ist oder nicht (kleine Temperaturschwankungen, wie oben bei Punkt 2 besprochen mal ausgenommen).

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass zwischen Kälte (im Sinne von “mir ist kalt”) und dem grippalen Effekt vermutlich kein relevanter Zusammenhang besteht. Dazu muss man allerdings auch sagen, dass die Datenlage eher spärlich ist. Dass grippale Infekte insbesondere im Winter auftreten, kann viele andere Erklärungen haben (z.B. Luftfeuchtigkeit, Außentemperatur, menschliches Verhalten). Dass solche Geschichten, man habe sich “erkältet”, trotzdem enorm verbreitet sind, zeigt wieder einmal, wie allgegenwärtig und überzeugend der Post hoc ergo propter hoc-Fehlschluss ist, den alle Leser dieses Blogs natürlich direkt als Ursache für diese Fehlannahme erkannt haben. Aber auch Eccles selber scheint sich von dieser Erklärung nicht ganz überzeugen zu lassen, wie er in der Einführung seines Artikels sagt:

“Modern textbooks of virology […] dismiss any cause-and-effect relationship between cold exposure and common cold, and often ridicule the idea as erroneous folklore. However, the belief that acute chilling of the body surface, in some way precipitates a common cold, is so widespread and longstanding, that it is difficult to completely dismiss the idea as being without some validity”

(“Moderne Virologie-Lehrbücher […] verwerfen jegliche Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Kälteexposition und einer Erkältung, und machen sich über die Vorstellung als irrtümlicher Volksglauben lustig. Jedoch ist der Glaube, dass die akute Kühlung der Körperoberfläche in irgendeiner Weise eine Erkältung verursacht, so weit verbreitet und besteht schon so lange, dass es schwierig ist die Vorstellung als ohne jegliche Gültigkeit abzutun.”)

Die Geschichte (und in der Tat auch die Gegenwart) ist jedoch voll mit Beispielen, bei denen viele Menschen an vollkommen falsche Vorstellungen geglaubt haben, selbst dann, wenn sie schon lange widerlegt wurden. In der Medizingeschichte war der vermutlich berüchtigtste Aberglaube der Aderlass, über den ich mal an anderer Stelle schreiben werde.

Auf der Liste der häufig verwendeten, aber wirkungslosen Mittelchen gegen eine “Erkältung” steht übrigens auch Vitamin C, Echinacea purpurea, und homöopathische Enteninnereien (Oscillococcinum).

Wem also nicht gerne kalt ist, der sollte sich besser die Haare trocknen bevor er aus dem Haus geht. Eine “Erkältung” verhindert man so allerdings nicht. Da hilft nur Hände waschen, Abstand halten, sich jährlich gegen Influenzaviren impfen lassen und Maske tragen.


1: die hier gegebene Erklärung biologischer Plausibilität ist etwas vereinfacht, eigentlich sollte man sie als A priori-Wahrscheinlichkeit im Sinne des Bayes’schen Theorems verstehen. Das wird aber ein ganz eigener Blogpost, und daher habe ich mich hier für eine etwas vereinfachte, aber für unsere hiesigen Zwecke ausreichende Definition entschieden. Alle die es besser wissen mögen mir verzeihen.

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