Hallmarks of Quackery

Veröffentlicht von

Im Jahr 2000 erschien im wissenschaftlichen Journal Cell ein Paper mit dem Titel “The Hallmarks of Cancer” (“Die Kennzeichen von Krebs”), in dem die Autoren sechs Eigenschaften bösartiger Tumoren definieren, die diese Erkrankung ausmachen. Das Paper war deswegen revolutionär, da es eine komplexe Reihe an Erkrankungen, nämlich verschiedene Krebsarten, auf wenige Grundprinzipien heruntergebrochen und verständlich gemacht hat. Krebs kann man verstehen, und dementsprechend kann auch in Aussicht gestellt werden, Krebs gezielt zu behandeln! Und tatsächlich hat sich unser Verständnis der molekularen Mechanismen, die dem unkontrollierten Wachstum und der Streuung von Krebszellen zugrunde liegen, in den letzten Jahrzehnten unglaublich viel getan. Daraus sind jetzt schon einige neue Therapien entstanden; ein Trend, der sich in den kommenden Jahren vermutlich noch beschleunigen wird. Darum soll es aber heute noch gar nicht gehen. Ich möchte das Konzept aber aufgreifen, um analog dazu die Hallmarks of Quackery (“Kennzeichen der Quacksalberei”) zu definieren; also Prinzipien, die sich durch alle “alternativen” Diagnostik- und Therapiekonzepte durchziehen, und anhand derer man Pseudomedizin von echter Medizin unterscheiden kann.

1. Das zentrale Dogma der Pseudomedizin

Der Begriff wurde ursprünglich von David Gorski geprägt, in Anlehnung an das zentrale Dogma der Molekularbiologie (über das ich hier bereits geschrieben habe, und auf das wir weiter unten nochmal zurückkommen). Im Grunde sagt es folgendes aus: In der Welt der Pseudomedizin haben wir alle unsere Gesundheit zu 100 % selbst in den Händen. Wir sind gesund, weil wir die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Jede Krankheit, die wir bekommen, haben wir selbst zu verschulden. Entweder weil wir uns falsch ernährt haben, negative Gedanken denken oder in einem früheren Leben Mist gebaut haben (wie es z.B. die Anthroposophen glauben). Zufall, Pech, Glück existieren alle nicht. Wer gesund ist, macht alles richtig; wer krank ist, ist selber schuld. Diese vollkommen perfide Ansicht zieht sich durch viele Formen von Pseudomedizin und auch Religion, die, wenn sie Heilung durch Fürbitten, Exorzismen oder Opfergaben verspricht, genauso Pseudomedizin ist. Man darf nicht unterschätzen, wie viel Leid solche impliziten Anschuldigungen verursachen. Denn es schwingt immer mit: Tja, hättest du mal besser auf uns gehört, dann wärst du jetzt nicht schwer krank. Hättest du dich mal besser ernährt / regelmäßig entschlackt / auf deine Aura geachtet / nicht so viele negative Gedanken gehabt. Dabei widerspricht diese Auffassung der Erfahrung, die wir alle tagtäglich machen: Shit happens. In Wahrheit hat der Zufall einen viel größeren Einfluss auf unser Leben, als wir gerne zugeben würde. Zwar kann man natürlich seine Chancen optimieren – beispielsweise einen Herzinfarkt zu erleiden -, indem man Sport treibt, nicht raucht und keinen Alkohol trinkt, aber absolute Kontrolle über die eigene Gesundheit hat man nie. Wir kennen alle die Geschichten über jahrzehntelange Raucher, die kerngesund waren, und über Fitnessfreaks, die trotzdem Lungenkrebs bekommen haben. Man kann schlichtweg Pech haben. Wer etwas anderes erzählt, der lügt, und will euch im Zweifelsfall auch etwas verkaufen. Wir sollten alle sehr froh sein, solange wir noch gesund sind. Nicht alles liegt in unserer Hand.

2. Alles mit Quanten

Pseudomedizin lässt sich per definitionem nicht wissenschaftlich erklären oder belegen. Weil eine biologische Erklärung nicht möglich ist, ziehen sich viele Schwurbler auf das Gebiet der Quantenmechanik zurück, also den Teil der Physik, der sich mit dem Verhalten der kleinsten Einheiten der Natur beschäftigt. Auch wenn ich mich im Rahmen eines früheren Studiums ein wenig mit Quantenmechanik beschäftigt habe, kann ich nicht von mir behaupten, dass ich sie verstanden hätte. Es gibt aber eine Unzahl an falschen Vorstellungen über Quantenmechanik. Das kommt daher, dass sich die Natur auf einer so kleinen Skala wie der von Photonen, Elektronen und Atomkernen komplett anders verhält, als wir das aus unserer Alltagserfahrung gewohnt sind. Intuition versagt auf dieser Ebene völlig. Als einzige Möglichkeit, um diese Welt verstehen zu können, bleibt nur noch die Mathematik. Und Mathe verstehen die meisten Menschen noch schlechter, geschweige denn die komplizierte Mathematik, die man für die Quantenmechanik braucht. Wenn man dann versucht, die Erkenntnisse einer mathematischen Berechnung wieder allgemeinverständlich in Worte zu fassen, dann kommen dabei etwas bizarre Formulierungen heraus: Ein Teilchen, dass durch eine energetische Barriere “hindurchtunnelt”, oder ein Teilchen, das gleichzeitig auch eine Welle sein soll. Dabei handelt es sich aber letztlich nur um (mehr oder weniger gute) Metaphern, um die Mathematik in Sprache zu übersetzen. Was man da allerdings mathematisch beschreibt, lässt sich in Experimenten sehr genau bestätigen: Mithilfe der Quantenmechanik lassen sich präziseste Vorhersagen treffen! Quantenmechanik mag daher etwas seltsam anmuten, sie beschreibt die Natur aber auf eine fundamentale Weise, und ist daher ganz klar Wissenschaft.

In der Biologie, und damit auch der Medizin, kommen wir jedoch komplett ohne Quantenmechanik aus. Wer versucht, den Wirkmechanismus seiner Pseudomedizin mithilfe von Quanten zu erklären, der ist ganz eindeutig ein Quacksalber. Medizin und Quantenmechanik sind getrennte Bereiche der Wissenschaft. Wenn jemand anfängt zu erklären, dass in einer Lösung gar kein Molekül des Wirkstoffs mehr enthalten ist, aber dann die Quantenmechanik anführt, um zu erklären, wieso das trotzdem alles ganz toll und wirksam ist: Am besten einfach weghören oder weiterscrollen. Quantenmechanische Erklärungen für medizinische Sachverhalte sind ein klares Kennzeichen für Quacksalberei.

3. Eine einfache Ursache aller Krankheiten, und eine einfache Therapie für alles

Jede pseudomedizinische Schule hat jede Krankheit verstanden. Kein Quacksalber gibt sich damit zufrieden, nur die “wahre” Ursache z.B. rheumatischer Erkrankungen oder des Diabetes gefunden zu haben. Nein nein, man muss direkt jegliche Form der Krankheit erklären können. Egal was es ist, glaubt man der traditionellen chinesischen Medizin, ist es immer das Qi, das nicht mehr korrekt durch den Körper fließt. Vor dreihundert Jahren waren es noch die vier Säfte, die nicht miteinander im Einklang standen. In der Religion ist alles entweder ein Dämon, der Teufel oder die Strafe Gottes. Der Chiropraktiker macht für alle Leiden sog. Subluxationen der Wirbelsäule verantwortlich (deren Existenz man nie nachweisen konnte) – ganz egal, ob das Problem in der Wirbelsäule oder einem inneren Organ liegt. Bei Wilhelm Schüßler, waren Krankheiten immer durch einen Mangel an Mineralstoffen bedingt – und konnte durch eines von weniger Schüßler-Salzen geheilt werden. Für Edward Bach war immer eine psychische Störung der Auslöser einer Krankheit – und siehe da, für jede psychische Störung hatte er ein Blütenextrakt, das diese beseitigen sollte. In der Homöopathie hat man für alles Globuli. Ähnlich verhält es sich mit Vitamin D, das durchaus auch (einige wenige) wissenschaftlich belegte Anwendungen hat, das aber auch gerne mal als Panazee für eine ganze Fülle an Erkrankungen angepriesen wird – unabhängig davon, ob überhaupt ein Mangel nachgewiesen werden kann oder nicht.

In Wahrheit ist Medizin aber komplex, und Krankheiten können auf unterschiedliche Arten entstehen. Durch ein physisches oder psychisches Trauma, eine Infektion, einen autoimmunen Prozess, einen Tumor oder einen genetischen Defekt. Manchmal ist der ganze Körper betroffen, oder das Problem liegt nur in einem einzelnen Organ. Oft ist es gar nicht eine einzige Ursache, sondern es kommen mehrere Risikofaktoren zusammen, wobei ein Anderer mit den gleichen Risikofaktoren vielleicht gar nicht erkrankt. Wieso das so ist bleibt oft unklar. Diese Komplexität geht in der Pseudomedizin unter. Stattdessen findet man einfache Ursachen, die durch einfache Mittelchen behoben werden. Das kann dann jeder Laie ohne Anstrengung in zwei Minuten verstehen – was sich zwar gut anfühlt, aber viel zu kurz gedacht ist. Die Realität ist hochkomplex, und wer das leugnet, ist mit guter Wahrscheinlichkeit ein Quacksalber.

4. Erfunden von einer historischen Figur, deren Lehren als Dogma gelten

Wie ich hier im Blog bereits erwähnt habe: Dogmen sind dumm. In der Wissenschaft existieren sie nicht. Auch wenn es in der Medizingeschichte Menschen gibt, die großartiges entdeckt haben, sind deren Erkenntnisse oft heute schon wieder überholt oder zumindest deutlich erweitert worden. Ein Beispiel habe ich hier bereits angeführt: Das Dogma der Molekularbiologie sagt, dass biologische Information unidirektional von DNA in RNA und von RNA in ein Protein fließt. Seit dieser ursprünglichen Formulierung wurde jedoch entdeckt, dass es durchaus möglich ist, aus RNA wieder DNA herzustellen (wie es beispielsweise das HI-Virus macht). Der Grundsatz, dass aus DNA über RNA ein Protein generiert wird, gilt prinzipiell weiterhin. Es gibt jedoch, wie wir heute wissen, auch Ausnahmen von dieser Regel. Wissenschaftliche Erkenntnisse wachsen weiter, sind nie statisch, und es ist immer möglich, lange geglaubt “Wahrheiten” umzustürzen, wenn man denn nur gute Belege dafür hat.

Dem gegenüber stehen pseudomedizinische Schulen, die von einem Guru vor vielen, teils hunderten von Jahren gegründet wurden, und die bis heute in dieser Form gelten. Dazu gehören Rudolf Steiner, der die Anthroposophie gegründet hat, Edward Bach von der Bach-Blütentherapie, die Chiropraktik geht auf D.D. Palmer zurück, die Homöopathie wurde durch Samuel Hahnemann erdacht und die Osteopathie wurde von Andrew Still begründet. Diese Formen der Pseudomedizin haben sich seit ihrer Gründung nicht bis kaum verändert. Es mag zwar modernere Denominationen davon geben, es gibt aber auch immer noch Anhänger der “klassischen” Form – ein klares Zeichen, das hier etwas faul ist, wenn man sich innerhalb eines Feldes nicht einigen kann und dadurch Splittergruppen entstehen (sehr schön auch verdeutlicht durch Religionen, die das genau gleiche Problem haben). Denn was nicht auf wissenschaftlichen Grundlagen beruht, sondern schlicht ausgedacht ist, das kann auch nicht rational verbessert und ausgebaut werden. Ein über lange Zeit starres Gedankenkonstrukt, das unfähig ist, hinzuzulernen, ist ein typisches Zeichen von Pseudowissenschaft und Quacksalberei.

Als bestes Beispiel dafür, wie sich Pseudowissenschaften nicht weiterentwickeln, dient diese Interview mit Michaela Geiger, der Vorsitzenden der homöopathischen Ärzte in Deutschland (ich habe es schon mal verlinkt, weil es einfach so schön ist):

5. Ohne Nebenwirkungen

Was ohne Nebenwirkung ist, ist auch ohne Wirkung. Immer. Denn was wir als Wirkung oder Nebenwirkung bezeichnen liegt in unserer subjektiven Bewertung. Es gibt für jeden Stoff, den wir zu uns nehmen, erstmal ein Spektrum an Effekten. Nehmen wir beispielsweise das Gift der Tollkirsche, das Atropin. Ein Effekt von Atropin ist die Erweiterung der Pupillen (Mydriasis genannt). Konsumiere ich Atropin als Rauschmittel, dann ist die Mydriasis für mich eine Nebenwirkung. Gehe ich zum Augenarzt, der mir mit Atropin die Pupille weit tropft, um mein Auge besser untersuchen zu können, dann ist dieser Effekt nicht mehr Nebenwirkung, sondern Wirkung. Das bedeutet aber auch: Was keine Nebenwirkungen haben kann (also keinen Effekt hat, ganz ohne Wertung), kann auch keine Wirkung haben. Das Versprechen einer nebenwirkungsfreien Therapie ist immer unseriös. Es mag sehr gute Therapien geben, die nur sehr seltene oder milde Nebenwirkungen haben – aber prinzipiell ist das immer möglich. Leider ist das Versprechen, keine Nebenwirkungen erleiden zu müssen, enorm attraktiv. Und deswegen werben auch so viele Quacksalber damit.

6. Natürlich und ohne Chemie

Der “Appell an die Natürlichkeit” (appeal to nature) ist eine der beliebtesten logischen Fehlschlüsse. Er besteht darin, dass man eine (willkürliche) Linie zieht zwischen dem, was man als “natürlich” ansieht und dem Gegenteil dazu, nämlich allem “künstlichen”. Letzteres wird dann auch gerne mit chemisch gleichgestellt (was gar keinen Sinn macht, denn alles ist Chemie). Alles natürliche ist dann gut, und alles chemische schlecht. Gerne werden Vitaminpräparate und Nahrungsergänzungsmittel so beworben: Ohne Chemie! Rein pflanzlich! Ganz natürlich! Solche Floskeln sind aber leider völlig substanzlos. Pflanzen können hochgiftig sein. Die potentesten Gifte (Botulinum-Toxin, Aconitin) sind natürlichen Ursprungs. Eine Brille ist hingegen ist künstlich (und chemisch). Sind Brillen deswegen böse? Sind Grizzlybären immer der Gesundheit zuträglich, nur weil sie natürlich sind? Wieso ist Acetylsalicylsäure, die ich aus natürlicher Weidenrinde aufreinige (mit chemischen Methoden übrigens), besser als das exakt gleiche Molekül, das chemisch synthetisiert wird? Über den Appell an die Natur könnte man noch lange schreiben (das habe ich hier auch getan), aber ich denke, diese Beispiele zeigen, dass es sich um eine völlig falsche Dichotomie handelt. Natürlich und künstlich sind irrelevante Begriffe, wenn ich herausfinden will, ob etwas gesundheitlich fördernd ist oder nicht. Wer mit ihnen wirbt, arbeitet nicht wissenschaftlich.

7. Detox

Die Idee hinter dem Entschlacken (“Detox”) ist es, dass sich Toxine in unserem Körper ansammeln, die zu gesundheitlichen Schäden führen, wenn wir sie nicht rechtzeitig ausleiten. Meistens geht es da um Umweltgifte, wo wir wieder beim vorherigen Kapitel wären. Die vorgeschlagenen Maßnahmen, um diese Gifte wieder aus dem Körper zu bekommen, reichen von bizarr (Kaffee-Einläufe) bis hin zu potentiell lebensbedrohlich (Trinken von Chlorbleiche, Aderlass). Was alle Detox-Befürworter jedoch vergessen: Wir haben schon zwei Organe, die quasi nichts anderes tun, als für uns gefährliche Moleküle auszuscheiden, nämlich unsere Nieren und unsere Leber. Routinemäßige Entschlackungen sind unnötig und wirkungslos. Es gibt tatsächlich nur eine Indikation, bei der man dem Körper hilft, Schadstoffe auszuscheiden: Bei einer Chelattherapie bei akuter Schwermetallvergiftung (und einigen anderen Vergiftungen). Chelatoren sind Moleküle, die an Metallionen (z.B. Bleiionen bei einer Bleivergiftung) binden, und so deren Ausscheidung über die Nieren erleichtern. Letztlich macht auch hier wieder unser Körper die Hauptarbeit. Abgesehen von dieser Ausnahme würde ich um alle Produkte und Dienstleistungen, die mit Entschlackung und Detox werben, einen großen Bogen machen.

8. Behandelt die Ursache, nicht nur die Symptome

Dieser Spruch findet sich typischerweise nur im Kontext von Pseudomedizin. Dadurch wird automatisch auch impliziert, dass die Gegenseite (die echte, wissenschaftsbasierte Medizin) immer nur Symptome therapiert, ohne die zugrundeliegende Krankheit zu erkennen. Und diese Vorstellung ist meiner Erfahrung nach weit verbreitet. Und das, obwohl es genau anders herum ist! Das gesamte Prinzip der Medizin ist es, eine Diagnose zu stellen, d.h. zu identifizieren, wo die Ursache der Beschwerden des Patienten herkommen, um diese dann zu behandeln. Wenn ich mit einer bakteriellen Hirnhautentzündung (Meningitis) zum Arzt gehe, wird dieser das Bakterium identifizieren und mir nach einer Resistenztestung genau das Antibiotikum verschreiben, das gegen dieses Bakterium am wirksamsten ist. Das ist völliger Standard. Nur leider ist eine Heilung des Grundproblems eben nicht immer möglich. Beispielsweise könnte eine Therapie zwar das Grundproblem adressieren, aber nicht ausreichen, um es komplett aus der Welt zu schaffen – wie das bei einer Chemotherapie bei Krebs häufig der Fall ist. Oder wir kennen die Ursache einer Erkrankung (noch) gar nicht. Bei einer Migräne haben wir zum Beispiel keine Ahnung, was die eigentliche Ursache ist – und können diese daher auch nicht behandeln. Dann bleibt als einzige Möglichkeit eben nur eine symptomatische Therapie mit Ibuprofen oder Sumatriptan. Da würde aber niemand behaupten, dass das ein Problem sei. Und zu guter Letzt kann es zwar sein, dass wir die Ursache eines medizinischen Problems zwar kennen und beheben können, der Körper es aber auch alleine lösen kann. So wird nicht jeder Knochenbruch automatisch operiert, sondern häufig konservativ mit Gips und Ruhigstellung therapiert.

In der echten Medizin wird also präferenziell immer die Ursache einer Krankheit therapiert, wenn möglich (und sinnvoll). Und wie sieht es in der Pseudomedizin aus? In der Homöopathie beispielsweise gibt es gar keine Theorie hinter Erkrankungen. In dieser Lehre wird schon prinzipiell rein symptomatisch behandelt, und zwar nach dem “Gleiches mit Gleichem heilen”-Prinzip: Eine Substanz, die bei einem Gesunden bestimmte Symptome auslöst, kann bei einem Kranken, der diese Symptome zeigt, zu deren Heilung verwendet werden. So benutzen Homöopathen z.B. Kaffee gegen Schlafstörungen (kein Witz). Von ursächlicher Therapie keine Spur. Und selbst wenn Pseudomedizin den Anspruch an eine kausale Therapie stellt, dann ist es immer eine Ursache für alle möglichen Erkrankungen, deren Existenz nie gezeigt werden konnte (womit wir wieder bei Punkt 3 wären).

Eng verwandt ist auch die Aussage, dass Pseudomedizin Patienten holistisch, also ganzheitlich betrachten würde – im Gegensatz zur wissenschaftsbasierten Medizin. Aber ist es wirklich “holistisch”, jedes medizinische Problem auf die immer gleiche Ursache zurückzuführen, oder mit der immer gleichen Methode zu behandeln? Ein Arzt überlegt sich hingegen, was die Ursache eines Problems ist (eine Infektion? Psychisch? Ein Tumor? Stress? Trauma?) und wie man es am besten angeht (medikamentös? Watch and wait? Physiotherapie? Lifestyle-Modifikationen? OP? Psychotherapie?). Das ist wirklich holistisch, aber in der Medizin schon seit vielen Jahrzehnten Standard. Die gängige Wahrnehmung steht der Realität jedoch diametral gegenüber.

Ganz davon abgesehen, dass manche Krankheiten eben auf ein bestimmtes Organ oder Körperteil begrenzt sind. Auf dem Weg von meiner früheren Wohnung zur Bushaltestelle bin ich immer an einer Praxis für ganzheitliche Podologie vorbeigelaufen – die Ironie ist dem Besitzer wohl nicht aufgefallen.

9. Aktiviert das Immunsystem

Gerade wer mit Impfgegnern diskutiert, der wird über kurz oder lang eine Variante des folgenden Satzes zu hören bekommen: “Mir macht das Virus nichts aus, ich habe ein sehr starkes Immunsystem”. Worauf ich nur sagen kann: Nein, hast du nicht, und da kannst du sehr froh darüber sein. Wer gesund ist, der hat ein adäquat mittelmäßiges Immunsystem. An dieser Stelle vermisse ich in der deutschen Sprache das Äquivalent zum schwedischen Wort “lagom”. Es bedeutet nicht zu viel, nicht zu wenig, sondern genau richtig. Ein gesundes Mittelmaß. Lagom beschreibt ein gutes Immunsystem perfekt. Denn obwohl wir uns das Immunsystem gerne als eine Armee vorstellen – je stärker bewaffnet, desto besser – ist die Vorstellung einer austarierten Waage viel näher an der Realität. Denn das Immunsystem zu aktivieren ist gar kein Problem. Das machen z.B. Bakterien, wenn sie sogenannte Superantigene produzieren; Proteine, die zu einer ungezielten Aktivierung von Immunzellen führen. Um bei der Metapher der Armee zu bleiben: Durch Superantigene fängt das Immunsystem an, wild in die Luft zu ballern, während der Feind unbehelligt über das Schlachtfeld marschieren kann. Auch mit bestimmten Medikamenten können wir unser Immunsystem unspezifisch aktivieren – das sind aber Reservemedikamente bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen, da eine solch unspezifische Aktivierung des Immunsystems immer zu Autoimmunphänomenen führt. Wenn sich die Waage in die Richtung der übermäßigen Aktivität verschiebt, dann hat das Autoimmunität zur Folge. Wenn die Seite der Immunsuppression überwiegt, dann kommt es zu opportunistischen Infektionen. Man möchte also ein austariertes Immunsystem haben – “lagom” eben. Ein “starkes” Immunsystem ist nichts vorteilhaftes.

Übrigens gibt es keinen Beleg dafür, dass man sein Immunsystem “trainieren” muss, beispielsweise durch regelmäßigen Kontakt mit Erkältungsviren. Dann bildet sich zwar ein Immungedächtnis gegen dieses eine respiratorische Virus, wenn das nächste aber kommt (und es gibt Hunderte davon), dann bringt einem dieses Gedächtnis herzlich wenig, und man liegt trotzdem wieder eine Woche flach. Auch hier scheint das fehlerhafte Bild des Immunsystems als Armee durchzuscheinen, die Übung dringend nötig hat.

Generell ist also jedes pflanzliche Erkältungsmittel, Vitaminpräparat oder Heilbad, das “die Abwehrkräfte aktiviert” mit großer Wahrscheinlichkeit Quacksalberei. Das gleiche gilt übrigens für alles, was die “Selbstheilungskräfte des Körpers” aktiviert (da hätte man als eigenen Punkt aufnehmen können). Tatsächlich gibt es aber eine wissenschaftlich belegte Intervention, die genau das macht, nämlich gezielt unser Immunsystem stärkt, um uns weniger anfällig gegenüber Krankheitserregern zu machen: Impfungen! Und unverständlicherweise sind genau diejenigen, die zur Stärkung ihres Immunsystems auf Pseudomedizin setzen häufig auch jene, die Impfungen vehement ablehnen. Logik darf man auf diesem Gebiet nicht erwarten.

10. Systematische Diffamierung von “Big Pharma”

Über die Probleme und Missstände in der pharmazeutischen Industrie wurden ganze Bücher geschrieben. Eine ausführliche und differenzierte Betrachtung kann ich hier in wenigen Absätzen natürlich nicht leisten. Aber neben vielen berechtigten Kritikpunkten darf man nicht vergessen, dass die pharmazeutische Industrie uns Zugang zu sicheren, essentiellen und meist auch billigen Medikamenten und Impfungen ermöglicht, und immer noch der hauptsächliche Entwickler neuer Therapien ist. Das deutlichste Beispiel in jüngerer Vergangenheit sind sicherlich die mRNA-Coronaimpfstoffe, die uns aus der Pandemie geführt haben und unzählige Menschenleben gerettet haben. Ebenfalls spenden Pharmakonzerne Milliarden an Medikamenten für den Kampf gegen die sog. neglected tropical diseases (“vergessene Tropenkrankheiten”), also Krankheiten, die hauptsächlich in den Tropen vorkommen und gegen die wir wirksame Medikamente haben, zu denen die betroffene Bevölkerung jedoch keinen Zugang hat. Die weitverbreitete Annahme, die Pharmaindustrie sei zutiefst böse und würde uns am liebsten möglichst krank machen, um uns ganz viele Pillen zu verkaufen, ist aber ein absurdes Zerrbild der Realität und gehört für mich ebenfalls zu den Merkmalen der Pseudomedizin. Oft überschneiden sich hier Ansichten auch rasch mit diversen Verschwörungsmythen. Obwohl man viel an der pharmazeutischen Industrie kritisieren kann (und soll), wäre eine Welt ohne Pharmaunternehmen viel weniger lebenswert und deutlich krankheitsgeplagter. Wenn hier nicht differenziert wird, dann ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, dass man sich schon in Kreisen der Pseudomedizin befindet – oder gar schon einem Verschwörungsmythos verfallen ist.


Change log:

  • 20.03.2023: Einige weitere Beispiele und Links ergänzt. Hinweise auf die Corona-Pandemie aktualisiert.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert